
Bruckner, Anton - Sinfonie Nr. 4 WAB 104
Für Tournee und Touristen?
Label/Verlag: Profil - Edition Günter Hänssler
Detailinformationen zum besprochenen Titel
Muss man das verstehen? Innerhalb kürzester Zeit kommen gleich drei verschiedene Versionen von Bruckners Vierter Symphonie heraus, dirigiert von Christian Thielemann. Ist seine Interpretation so genial, dass sie das rechtfertigt?
Natürlich gab es schon immer große Bruckner-Dirigenten, die sich mehrfach ins Aufnahmestudio begeben und mehrere Versionen ‚ihrer‘ Bruckner-Interpretationen vorgelegt haben. Meist mit großem zeitlichen Abstand, so dass die Neuaufnahme eine an Erfahrung gereifte oder zumindest tontechnisch fortschrittlichere Version darstellt. Erinnert sei an Günter Wand und seine Bruckner-Zyklen bei RCA: erst mit dem Kölner Rundfunk-Sinfonie-Orchester in den 1970er-Jahren, dann mit dem NDR Sinfonieorchester und später mit den Berliner Philharmonikern live. Wobei hier die spätere Aufnahme des greisen Maestro aus den frühen 2000er-Jahren diejenige ist, die das Moderne, Radikale, Deskonstruktivistische, nachgerade Giganteske Bruckners noch deutlicher hervorhebt und zudem mit dem Berliner Orchester ein solche Brillanz entfacht, dass die Neueinspielung ein wahrer Glücksfall für Bruckner-Fans ist. Besonders wenn sie das Glück hatten, die Konzerte damals live zu erleben. Der Begriff Sternstunde fängt die Bedeutung dieser Konzerte nicht adäquat ein.
Nun also Christian Thielemann im Wiederholungsmodus. Statt wie Günter Wand Jahrzehnte zu warten, kommen bei ihm die Einspielungen der Vierten Symphonie (‚Romantische‘) Schlag auf Schlag: 2008 mit den Münchner Philharmonikern, 2016 auf DVD/Blu-ray als Konzertmitschnitt vom 23. Mai 2015 mit der Staatskapelle Dresden aus dem Festspielhaus Baden-Baden, jetzt als CD bei Profil/Hänssler in der Edition Staatskapelle Dresden Vol. 42, live aufgenommen am 17. Mai 2015 in der Semperoper, also eine Woche vor der Videoaufnahme in Baden-Baden.
Da reden alle immer von einer Krise der Plattenindustrie – und dann diese Überflutung? Man darf schon ein bisschen staunen; ich staune jedenfalls. Und frage mich: Braucht die Welt so viele Thielemann-Einspielungen? Es wird ja wohl kaum zwischen München, Baden-Baden und Dresden innerhalb von so kurzer Zeit nennenswerte Interpretationsentwicklungen gegeben haben. Aber vielleicht ist ja die Thielemann-Interpretation an sich bereits so genial, dass sie eine derartige Massenausschlachtung rechtfertig.
Mit diesem Gedanken im Kopf habe ich mich recht neugierig auf die opulent ausgestattete Profil/Hänssler CD gestürzt, die in ihrem reich bebilderten Booklet die besondere Verbindung Bruckners mit Dresden skizziert und auch die Aufführungsgeschichte der Vierten Symphonie bei der Staatskapelle Dresden nacherzählt. Erwähnt seien da u.a. Hofkapellmeister Adolf Hagen, Karl Böhm und Joseph Keilbert als Interpreten.
Das berühmte Hornsolo gleich zu Beginn, das sich mit dem Quinten-Thema mysteriös aus dem Ur-Nebel Bruckners erhebt, gelingt dem erfahrenen Wagnerianer Thielemann großartig. Auch ist der Sound (von der MDR-Tontechnik eingefangen) wunderbar in Balance, Klangfülle und Detailreichtum. Aber danach beginnen für mich die Probleme. Ich habe lange überlegt, warum die Aufnahme auf mich nicht wirkt, was als Gefühl im Scherzo und Finale immer intensiver wurde. Es ist schwer, den Finger auf einen wunden Punkt zu legen, weil die Staatskapelle Dresden grandios spielt, wenn auch ohne die silbrig schimmernde Brillanz der Berliner Kollegen. Es fehlt vor allem an Drive: alle Akzente, alles Krachende der Brucknerschen Tonsprache wird hier weich abgefedert. Wo z.B. Günter Wand die Kompositionselemente wie tektonische Platten aufeinanderknallen lässt und damit maximale Verstörung (und maximalen Effekt) erzeugt, glättet Thielemann. Was durchaus im Sinn von ‚Romantik’ verstanden werden kann, was aber Bruckner viel Überwältigungspotenzial nimmt.
Im 17-minütigen 'Andante' stört das nicht besonders, weil es zu einem elegisch dahingleitenden Gebet wird, von großer Intimität und mit erstaunlichen Rubati. Aber bei aller geschätzten Rubato-Kultur: Im Scherzo mit seinen Jägerfanfaren kommt Thielemann einfach nicht in Fahrt. Es ist ein endloses Stop-and-Go, wo über elf lange Minuten keine Zielgerade in Sicht ist. (Man muss das nur mal vergleichen mit Karl Böhms alter Aufnahme mit den Wiener Philharmonikern aus den frühen 1970er-Jahren, wo dieses Scherzo fast ein Rausch ist, der ebenfalls exakt elf Minuten dauert.) Auch im Finale fehlen mir die klaren Akzente, das Aggressive, die theatrale Geste. Auch hier zog sich das Klangerlebnis für mich in endlose Länge. (Immerhin: 24 Minuten.)
Natürlich ist es Geschmackssache, ob man Bruckners ‚Romantische‘ weich gepolstert und wohlüberlegt abgefedert hören möchte oder ob man es ruppiger und radikaler mag. So oder so hätte mehr vorwärtsstürmender Impetus der Interpretation gutgetan, die hier insgesamt statisch wirkt und oft detailverloren. Und das, obwohl die Details sehr schön herausmodelliert sind.
Ob es angesichts dieser Einschränkungen nachvollziehbar ist, dass Thielemann mit diesem Werk derart gehäuft auf Bild- und Tonträger in Erscheinung tritt, in so kurzer Zeit? Ich habe da meine Zweifel. Immerhin schmiedet die Staatskapelle Dresden hiermit einen Bruckner-Gesamtzyklus in der Semperoper, der als lokalpatriotischer Akt lobenswert ist. Besonders wenn man an die vielen berühmten Dirigenten der Vergangenheit denkt, die in Dresden Bruckner zu Gehör gebracht haben. Hier wird Tradition weiterentwickelt und auf Tonträger festgehalten. Für Tourneegelegenheiten und Touristen ist das sicher sinnvoll, was nicht negativ gemeint ist, sonder eine praktische Einschätzung sein soll. Denn irgendwer muss solche Veröffentlichungen schließlich kaufen!
Interpretation: Klangqualität: Repertoirewert: Booklet: |
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Detail-Informationen zum vorliegenden Titel:
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Bruckner, Anton: Sinfonie Nr. 4 WAB 104 |
|||
Label: Anzahl Medien: Veröffentlichung: |
Profil - Edition Günter Hänssler 1 26.05.2017 |
Medium:
EAN: |
CD
881488160642 |
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