
Schönberg, Arnold - Gurre-Lieder
Der Reiz der Dystopie
Label/Verlag: Opus Arte
Detailinformationen zum besprochenen Titel
Schönbergs 'Gurre-Lieder' in einem gelungenen Experiment als szenische Dystopie.
Man darf getrost von einem regelrechten Trend im künstlerischen Umgang mit Kantaten und Oratorien sprechen, der im letzten Jahrzehnt immer evidenter geworden ist. Kompositionen, die einst ganz bewusst der konzertanten Aufführungen übergeben worden sind, spielen immer deutlicher eine Rolle auf der Opernbühne. Allen jenen wohlmeinenden Puristen, die ins Feld führen, dass jene dafür nicht gedacht seien, muss entgegnet werden, dies sei vielleicht ein Grund, aber kein Hindernis. Man denke an den Umgang mit Johann Sebastian Bach und Georg Friedrich Händel. Der letztere hat selbst Anlass zu einer Inszenierung seiner 'Semele' gegeben, da er das Stück im Untertitel in die Nähe der Oper rückte, und man kann sich streiten, ob das Hörtheater der Bach'schen Passionen der Szene bedürfen, aber auch hier sind schon ansehnliche Produktionen gelungen. Ein besonderer Glücksfall ereignete sich jüngst mit Christian Spucks Inszenierung und Choreographie des Requiems von Giuseppe Verdi.
Ein besonderes Wagnis stellte auch das dar, was sich Intendant und Regisseur Pierre Audi an der Dutch National Opera in Amsterdam in der Spielzeit 2014/15 traute. Hundert Jahre nach der Uraufführung in Wien inszenierte er Arnold Schönbergs 'Gurre-Lieder' für Soli, Chöre und Orchester an dem Haus, das er nun verlassen wird. Opus Arte hat diese Produktion auf DVD festgehalten. Die 'Gurre-Lieder' sind in mehrfacher Hinsicht eine Herausforderung. Sie stehen im Schaffen Schönbergs zwischen den Stühlen, da in ihnen die vielbeschworene Spätromantik auf neue Kompositionstechniken und Ausführungsweisen trifft. Daraus ergibt sich der Anspruch, das Werk angemessen zu besetzen. Gerade die Sprecherpartie gehört sicherlich zum Anspruchsvollsten, was Schönberg dieser Komposition mitgab.
Idealbesetzungen
Marc Albrecht und das Besetzungsbüro der Dutch National Opera, Heldinnen und Helden des Alltags an jedem Opernhaus, haben hier Großes geleistet. Das Liebespaar Tove und Waldemar könnten idealer nicht besetzt sein. Emily Magee und Burkhard Fritz sind als Liebespaar, das durch reiche Strauss- und Wagner-Erfahrung gestählt ist, schlicht herausragend. Magee berührt mit warmer und dennoch kraftvoller Stimme und Fritz glänzt mit heldentenoraler Strahlkraft und vor allen Dingen auch mit seiner unglaublichen Bühnenpräsenz. Die dritten Hauptpartie der Premierenproduktion ist mit Anna Larsson genau richtig besetzt. Das Lied der Waldtaube, das eine eigenständige Karriere gemacht hat, ist der Dreh- und Angelpunkt der Kantate und ein großer Moment für die Frickas, die Brangänen und Waltrauden dieser Welt geworden. Larsson glänzt nicht zuletzt durch Stimmführung und Brillanz, sondern auch durch ihre exzellent geführte Tiefe.
In der Inszenierung von Audi sind Bauer und Klaus Narr keine kleinen Partien. Markus Marquardt und Wolfgang Ablinger-Sperrhacke erweisen sich als Idealbesetzungen. Deutlich ungewohnt, was ihm aber nicht zum Nachteil auszulegen ist, ist es, Markus Marquardt als Bauer zu erleben. Sein Kavaliersbariton fügt hier eine spannungsvolle Farbe hinzu, Marquardt nimmt seiner Partie das Grobschlächtige. Besonders beglückend ist die Besetzung des Klaus Narr mit Ablinger-Sperrhacke zu nennen. Er ist derzeit einer der führenden Charaktertenöre weltweit. Leider setzt sich derzeit eine Tendenz durch, dass das Charakterfach ebenfalls die heldische Maske tragen muss. Das ist dahingehend traurig, als dass solche Partie ihre Eigenheiten verlieren, denn sie sind ebenso anspruchsvoll und meist sogar höher gesetzt als die Heldenpartien. Man denke an die halsbrecherische Partie des Mime in 'Siegfried' oder des Herodes in 'Salome'. Ablinger-Sperrhacke braucht diese Schminke nicht, seine Stimme wirkt natürlich und balanciert in ihrem Gewitztsein zwischen den Extremen.
Die Krone verdient sich Sunnyi Melles, die als Schauspielerin ungeheures Talent für die eigentlich Sängern zugedachte Sprecherpartie beweist. Ihre Interpretation reiht sich harmonisch ein in die Folge von grandiosen Interpreten wie Hans Hotter oder Ernst Haefliger. Freilich, vielleicht spricht sie manchmal zu exaltiert, aber das braucht diese Partie. Nicht vergessen werden dürfen die Chöre, den der Dutch National Opera und der KammerChor des ChorForum Essen. Spätestens bei der wilden Jagd der Mannen offenbart sich ihr sublimes Können.
Pierre Audis Inszenierung betont gänzlich neue Aspekte in den 'Gurre-Lieder', die er – man kann sagen: der Partitur gemäß – als Dystopie erzählt. Die Dystopie liegt ihm und seinem Ausstatter Christof Hetzer bekanntlich sehr. Ein halb zerstörter Einheitsraum, in den immer wieder Elemente eingeschoben werden, bildet die Spielfläche für ein vom symbolistischen Gedicht zum Welt(kriegs-)theater geweiteten Bühnenstück. Audi zeigt dabei, was der Terminus ‚Musiktheater‘ wirklich bedeuten kann. Es gibt hier keine Bewegungen, die durch die Musik aus dem Orchestergraben (höchst erfreulich: das Netherlands Philharmonic Orchestra) nicht determiniert wären. Jede Rolle der torsohaften Handlung erzählt in diesem Ambiente ihre Geschichte. Vor allen Dingen sind hier Burkhard Fritz (als zerfallender Held) und Wolfgang Ablinger-Sperrhacke (als tänzelnder General mit Pickelhaube) in ihren schauspielerisch anspruchsvollen Partien zu loben. Auch dem, der szenisch ausgeführte Kantaten und Oratorien ablehnt, sei diese DVD, die auch in technischer Hinsicht beglückt, empfohlen. Wer die 'Gurre-Lieder' liebt, wird auch diese szenische Umsetzung lieben.
Interpretation: Klangqualität: Repertoirewert: Booklet: Features: Regie: |
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Detail-Informationen zum vorliegenden Titel:
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Schönberg, Arnold: Gurre-Lieder |
|||
Label: Anzahl Medien: Veröffentlichung: |
Opus Arte 1 27.01.2017 |
Medium:
EAN: |
DVD
809478012276 |
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