> > > Stabat Mater: Werke von Boccherini, Pergolesi, Schubert, Liszt, Pärt u.a.
Sonntag, 24. September 2023

Stabat Mater - Werke von Boccherini, Pergolesi, Schubert, Liszt, Pärt u.a.

Marias Sorge über vier Jahrhunderte


Label/Verlag: Brilliant classics
Detailinformationen zum besprochenen Titel


Eine katholische Variante zu Bachs Passionen sind diverse musikalische Einrichtungen des lateinischen Stabat-Mater-Textes. Diese 14-CD-Box stellt 24 höchst und auch minder prominente Vertonungen von Palestrina bis Pärt zusammen.

Zunächst überrascht repertoirepolitisch die versteckte Zusammenarbeit der Low-Budget-Boxen-Schmiede Brilliant Classics mit dem seit 25 Jahren den Low-Budget-Markt prägenden Giganten-Label Naxos: Nahezu die Hälfte der Aufnahmen stammt diesmal nicht aus den gewohnten von Brilliant Classics lizensierten Quellen (Berlin Classics, BIS, Tactus, zeitweise sogar EMI), sondern quasi von der direkten größten Konkurrenz. Haben wir da eine geheime Übernahme oder ein Joint Venture verschlafen? Mal sehen, was in Zukunft kommt.

Das Projekt ‚Stabat Mater‘ ist, nachdem Brilliant Classics früher bereits intensiv Sammel-Boxen zu fast allen halbwegs bekannten Komponisten herausgegeben hat, jedenfalls interessanter Teil der aktuellen Anthologien-Politik, nach der offenbar in möglichst großformatigen Sammlungen ein Überblick über ein etabliertes (kanonisiertes) Repertoire wie auch zugehörige ‚Entdeckungen‘ gegeben werden soll: Das kann wie zuletzt französische Cembalomusik oder italienische Klaviermusik der ‚Moderne‘ sein, aber eben nun auch eine Gattungsgeschichte in Beispielen, die hier zudem den Reiz des Vergleichs von Parallelvertonungen desselben liturgischen Textes besitzt. Dieser Text weist nicht erst musikalisch-stilistisch, sondern bereits in der als Libretto gewählten und oft gekürzten Fassung signifikante Unterschiede auf, wiedergegeben zumindest in seiner lateinischen ‚Langform‘ im sonst eher spärlichen Beiheft. Die Übersetzung ist wie Philip Borg-Wheelers mit durchschnittlich zwei Sätzen pro Werk äußerst knapper Einführungstext (dreieinhalb Seiten) nur auf Englisch. Deshalb hier schon der Hinweis, dass es von und für Stabat-Mater-Fans ergänzend eine eigene, gut recherchierte und brillant präsentierte Internet-Seite ‚The Ultimate Stabat Mater Site‘ mit hunderten von aufgeführten Werken gibt (ebenfalls aus Holland und auch fast nur auf Englisch).

Doch nun zu dem, was in dieser preiswerten Box enthalten ist: Den Übergang der Vokalpolyphonie der Spätrenaissance hin zum Barock markiert einzig Palestrinas späte elfminütige motettische Vertonung (um 1590 entstanden); weitere Beispiele der polyphonen ‚prima pratica‘ des 15. und 16. Jahrhunderts wie etwa die Josquin-Version sucht man vergebens (wenn auch Domenico Scarlattis aufwändige Komposition von 1714 überraschend eine Übung in diesem alten motettischen Stil darstellt). Bezeichnenderweise ist dieses ‚früheste‘ Zeugnis eines wirklich prominenten Komponisten mit der wahrlich prominentesten ‚Duett‘-Fassung des Textes von Giovanni Battista Pergolesi und Antonio Vivaldis ebenfalls höchst bekannter Altsolo-Motette RV 621 auf CD 1 zusammengefasst: Dieser etwas ahistorisch konzipierte ‚Hitparaden‘-Einstieg signalisiert einen gewissen Populismus jenseits stringenter Gattungsperspektivierung, zumal die drei Aufnahmen auch qualitativ sehr unterschiedlich sind: Timothy Browns Pergolesi-Einspielung von 1995 aus Cambridge geistert schon länger durch die Low-Budget-Drogeriekettenauslagen (zuletzt 2012 in einer 4-CD-Box von Brilliant Classics) und ist trotz der zeitweisen Countertenor-Berühmtheit von Lawrence Zazzo und einer lichten kammermusikalischen Besetzung maximal im unteren Mittelfeld der unzähligen historistischen und modernisierten Aufnahmen mit teils beeindruckender Starbesetzung anzusiedeln (allerdings besser als Anna Netrebkos merkwürdiger Versuch vor einigen Jahren). Mit seinem Choir des Clare College ist Brown dann bei Palestrina eine wesentlich prägnantere ‚großformatige‘ Einspielung gelungen. Am überzeugendsten fällt jedoch überraschend Vivaldis 'Stabat mater' aus, hat man zunächst doch die tatsächlich stellenweise gruselig unprofessionelle Gesamtaufnahme der Bach-Kantaten in Erinnerung, die das alte Brilliant-Classics-Hausensemble um Pieter Jan Leusink und den Holland Boys Choir einst vorlegte: Leusink und die Altistin Sytse Buwalda können in der Konkurrenz mit der Alte-Musik-Prominenz von Helen Watts bis Andreas Scholl und Sara Mingardo jedoch ganz gut bestehen, und das Orchester spielt lebendig und ist durchsichtig aufgenommen.

Ein nicht enttäuschender, aber auch nicht berauschender Barock-‚Opener‘ also, dem vier weitere CDs mit Werken von Komponisten des Hoch- bis Spätbarock folgen: in chronologischer Reihenfolge ihrer Geburt die Italiener Steffani, Alessandro Scarlatti, Caldara, Antonio Maria Bononcini und Domenico Scarlatti, wobei die schon genannte motettische Vertonung des Sohnes um 1715 dem ‚Oratorium‘ des Vaters und der anderen Genannten erst im folgenden Jahrzehnt vorausgeht (1727 wurde der Text von Papst Benedikt dem XIII. der Liturgie zum Fest der Sieben Sorgen Mariens am 15. September zugeordnet). Einen Vorgriff stellt nur Bononcini dar (nicht Giovanni Battista, sondern eben ein Antonio), dem eine ganze CD mit der Camerata Ligure und dem etwas nachlässig klingenden Stradella Consort unter Estévan Velardi aus dem Jahre 1989 gewidmet ist, die neben dem ebenfalls groß besetzten c-Moll-'Stabat Mater' (gegen 1710) ergänzend die Cantate 'Dio e la vergine' umfasst (ein wichtiger Repertoirepunkt, brauchbar musiziert, aber nicht so gut wie die Konkurrenz von George Guest bis Rinaldo Alessandrini). Morten Schuldt-Jensens klangschön gesungene und aufgenommene Leipziger Aufnahme von Domenico Scarlattis Stück (Naxos 2007, CD 5) überragt hingegen deutlich die trotz Maria Zádori und Paul Eswood etwas bieder-langweilig wirkende ungarische Darstellung der in der Besetzung Pergolesi ähnelnden väterlichen Konkurrenz-Komposition (Hungaroton 1986, CD 2). Der zweite echte Barock-Höhepunkt ist die Steffani-Deutung mit Harry Christophers‘ The Sixteen (CD 4). Die Einzel-CD-internen Koppelungen – Alessandro Scarlatti mit Caldara (unter Diego Fasolis), Domenico völlig überraschend mit Lorenzo Perosi (ein Spätromantiker, 1872 geboren: da hat wohl jemand nur den italienischen Namen gelesen?) – erscheinen allerdings sowohl chronologisch und stilistisch als auch in den ganz unterschiedlichen Klangbildern eher etwas zufällig.

Fünf CDs Barock, dreieinhalb Mal Klassik und Frühromantik

Luigi Boccherinis 'Stabat mater' G.532 für Sopran (Francesca Boncompagni) und mit dem Ensemble Symposium solistisch besetztem Streichquintett – eine Brilliant-Classics-Neuproduktion von 2016 – ist wiederum Steffanis deutlich älterem Meisterwerk beigegeben; neben Joseph Haydns umfangreicher Vertonung in einer neuen, recht konventionellen, sorgsamen Einspielung mit Frieder Bernius (ehemals Vox) und Schuberts Jugendwerk D 175 (wieder Schuldt-Jensens Immortal Bach Ensemble, beides CD 6) steht es für den Übergang vom ‚klassischen‘ späteren 18. zum 19. Jahrhundert, wo katholische Kirchenmusik an Stellenwert verliert und vor allem auch von Opernkomponisten gepflegt wird: Rossinis Glanzstück (CD 7 in der ziemlich operngemäßen knalligen Vorführung mit Pier Giorgio Morandi) und die historisch interessante dritte Vertonung von Simon Mayr (CD 8, eine italienische Dynamic-Produktion unter Pieralberto Cattaneo mit einigen fragwürdigen Momenten) markieren einen frühromantische Belcanto-Zugang.

Für die Tradition großer Chorfeste mit ihren kleineren und größeren oratorischen Ansprüchen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts stehen dann eine zwanzigminütige Rarität für zwei Chöre a cappella und sechs Solisten von Franz Lachner (eine Oehms-Aufnahme aus München mit dem Orpheus-Chor) und natürlich Antonín Dvoráks Riesenwerk in einer älteren Naxos-Aufnahme aus Washington unter Rober Shafer, die einem mittleren Standard großer Laienchöre entspricht und in John Aller zumindest einen glänzenden Tenor-Solisten präsentiert (CDs 9 und 10). Verdis 1898 erschienenes 'Pezzo sacro' (wie Rossini unter Morandi) ist dann mit der symphonischen Kantate von Charles Villiers Stanford von 1904 gekoppelt, einem fünfsätzigen vokalsymphonischen Wurf, den David Hill mit dem Bournemouth Symphony Orchestra in einer ziemlich neuen, auch einzeln empfehlenswerten Naxos-Aufnahme von 2015 mit genügend Bewegtheit und Süße musizieren lässt (CD 11). Hills Aufnahme der zweiten britischen, im markanter Rhythmischen an die bekannteren Zeitgenossen Walton und Tippett erinnernden Vertonung durch Herbert Howells (1965) entspricht sogar im Beirepertoire (ein 'Te Deum', ein 'Sine nomine') der Naxos-Veröffentlichung von 2013 (CD 13, aufnahmetechnisch nicht immer gut durchhörbar).

Für noch Zeitgenössischeres stehen auf CD 14 Arvo Pärt in einer guten holländischen Neuaufnahme unter Krijn Koetsveld und die spannende Version von Knut Nystedt mit den Exsultate Singers unter David Ogden zur Solocello-Begleitung von Richard May; die CD ist mit Liszts 'Stabat Mater'-Teil aus dem 'Christus'-Oratorium gefüllt hat (unter Helmuth Rilling), eine recht eigenwillige Zusammenstellung. Passender CD 12 mit den beiden ‚modernen Klassikern‘ von Szymanowski und Poulenc in etwas angegrauten, aber recht passablen älteren Naxos-Aufnahmen unter Karol Stryja und Michel Piquemal. Stryja wird allerdings wie ein größerer Teil der Besetzung auf der Papp-Hülle, die alle Produktionsinformationen enthält, gar nicht genannt – der extremste Fall recht schlampiger Produktionsangaben (nur an dieser Stelle), wo bei teils drei verschiedenen Herkünften einiges an Daten und Orten unterschlagen und manches auch sehr unübersichtlich dargestellt erscheint: Ein Rückschritt gegenüber zuletzt oft besserer ‚bibliographischer‘ Präsentation des Labels, das offenbar immer noch nicht durchgängig genügend Wert auf solche für Sammler wichtige Informationen legt. Im Internet ist aber nahezu jede Produktion nachrecherchierbar, so dass sich statt des dokumentarischen Werts wirklich eher der werte Preis als Kaufargument anbietet.

Trotz des schmalen Booklets ist zumindest die grafische Aufmachung der handlichen Kartonschatulle ansprechend, und die Fifty-Fifty-Mischung aus Kanon-Abdeckung und entdeckenswertem Repertoire dürfte im Hinblick auf die Passionswoche bei Chormusik-Liebhabern auf Interesse stoßen. Die bei Domenico Scarlatti und Steffani herausragenden, bei Nystedt und Stanford konkurrenzlosen und sonst in der Regel zufriedenstellenden Darbietungen aus Back-Katalogen sorgen nicht für Enttäuschung oder größere Langeweile, sondern erlauben es mit Blick auch auf Karfreitag, sich durchaus auch emotional intensiv mit einer reichen musikalischen Tradition in diversen Ausdrucksformen auseinanderzusetzen.

Interpretation:
Klangqualität:
Repertoirewert: 
Booklet:





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Detail-Informationen zum vorliegenden Titel:



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    Stabat Mater: Werke von Boccherini, Pergolesi, Schubert, Liszt, Pärt u.a.

Label:
Anzahl Medien:
Veröffentlichung:
Brilliant classics
14
17.02.2017
Medium:
EAN:

CD
5028421953700


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Mit den Veröffentlichungen von komplettierten Gesamtwerks- Editionen und Zyklen berühmter Komponisten, hat sich das Label erfolgreich am Musikmarkt etabliert. Der Klassikmusikchef, Pieter van Winkel, ist Musikwissenschaftler und selbst Pianist. Mit seinem professionellen musikalischen Gespür für den Klassikmarkt, hat er in den letzten Jahren ein umfangreiches Klassikprogramm aufgebaut. Neben hochwertigen Lizenzprodukten fördert er mit Eigenproduktionen den musikalischen Nachwuchs und bietet renommierten Musikern eine ideale Plattform.


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