
Ginastera, Alberto - Klavierwerke
Vogelfreie Gauchos
Label/Verlag: cpo
Detailinformationen zum besprochenen Titel
Michael Korstick gibt der hier fast vollständig eingespielten Klaviermusik des Agentiniers Alberto Ginastera (1916-1983), was sie braucht: grelle und harte Rhythmen und Klangfarben, Brutalität und Melancholie.
Amerikanische Pianist(inn)en haben Ginastera immer schon hochgehalten: Nicht zuletzt Landsfrau Martha Argerich, der US-Amerikanerin Barbara Nissman – ihr hat Ginastera v.a. 1982 seine finale dritte Sonate gewidmet – oder jüngst der Venezolanerin Gabriela Montero ist zu verdanken, dass zumindest Teile der hiesigen Pianophilen schon einmal die grandios virtuose Erste Klaviersonate op. 22 (1952 mehr als auf Augenhöhe mit Prokofjew) oder die wegweisenden 'Danzas argentinas' op. 2 (1937) gehört haben: Die eingängig verzwackte 'Danza del viejo boyero' könnte auch in Ligetis 'Musica ricercata' stehen, ohne aufzufallen, während die übermütig schließende 'Danza del gaucho maltrero' jeden enthaltenen polyrhythmischen Konstruktivismus in schlagkräftigster Boxer-Manier dann einfach zur Seite fegt.
Ginastera ist ein Folklorist wie Bartók, durch dessen Fantasie und Fortissimo-Ausdauer im Perkussiven das Tänzerische oft ins Hysterische auszuarten droht und neben dessen Hang zu kantabler Melancholie sogar ein Astor Piazzolla oberflächlich wirkt. Was man mit einer wehmütigen Melodie anstellen kann, wenn man über alle kontrapunktischen und harmonischen Mittel der Zeit zwischen den Weltkriegen frei verfügt, machen die hörbar liedtranskribierte 'Milonga' oder auch die 'Cuyana' der anspruchsvollen, aber kaum bekannten 'Tres piezas' op. 6 deutlich: Michael Korstick besitzt die Einfühlung, die Linien der rechten Hand über der agogisch schön selbständigen Linken ‚rubato‘ leuchten zu lassen – wenn er nach zwei Minuten 'Cuyana' nur ganz kurz das Tempo mit etwas Druck anzieht, wirkt das wie ein Messerstich, eine kurze trostlose Erinnerung, die sich keineswegs im Sentimentalen ertränkt, sondern im singenden Wiegen erkämpft anfühlt. Die folgende merkwürdige, ebenfalls langsam ertastete 'Norteña' wirkt wie 'Gnomus' auf Ravels Galgenhügel, mit allen Farben des gut aufgenommenen Flügels gemalt.
'Pah pah PAAHH - ! - padapa papadaPADAH! papadaPADAH! (Criolla)
Was Korstick jedoch aus der dritten der drei ‚piezas‘ mit seiner synkopisch markanten Fortissimo-Eingangssignatur macht, wie er die Maschine startet, den Liedgedanken wirbelt, aber auch rhapsodisch mit dem Stück innehält, um vor der wahnsinnigen Tanz-Stretta der Criolla quasi recitativo Momenten der Leere und einsamer Töne zu lauschen, das macht diesen Zyklus zur Entdeckung der Platte. Korstick braucht man wohl nicht mehr zu entdecken, aber dass er in allen Idiomen, auch in diesem tänzerisch-modernistischen dieses signifikanten Argentinos, so zuhause ist, überrascht dann doch. Bis man den hervorragenden Einführungstext von ‚Charles [K.] Tomicik‘ im Booklet gelesen hat und von Michael Korsticks anagrammatisch verwandtem Musikprofessoren-alter-ego erfährt, dass sich der junge Pianist und Absolvent der Juillard School 1979 gewissermaßen die Lizenz zum authentischen Ginastera-Spiel durch Vortrag der Ersten Sonate zu Ohren des in New York anwesenden Komponisten erspielte – wie zudem ein Foto von Korsticks eigener Sonatenausgabe mit Widmung und Unterschrift bezeugt.
Nun kann man sagen: Es gibt derzeit wohl keine bessere Aufnahme (fast) aller Klavierwerke von Ginastera als eben diese frisch erschienene, schon im Herbst 2015 für den Deutschlandfunk in Köln eingespielte Anthologie, die im Vergleich mit Fernando Vianis ‚Gesamtaufnahme‘ beim Label Naxos – 2006 einschließlich zweier Orgelwerke – nur die Zweite Klaviersonate op. 53 (1981) und die nichtgedruckten Stücke für Kinder auslässt (drei veröffentlichte sind enthalten). Die ähnlich schräg-mechanische, fast ironisch glissandierende und abrupt schließende Dritte Sonate genügt tatsächlich als Spätwerk und kompakter Rausschmeißer des Albums völlig, angemessen laut und atemlos vorgetragen. Kritik mag man eigentlich nur an der auch eingespielten Klavier-Bearbeitung einer Orgel-Toccata des italienischen Argentinien-Missionars Domenico Zipoli (1688-1729) wagen: Ginasteras virtuose Übersteigerungen der barocken Vorlage mit mehr als nur Lisztschen Manieren gerät unter massivster Pedalnutzung überraschend aufnahmetechnisch an die Grenze des Erträglichen, da im Lautstarken völlig Verhallten – als ob auch der Toningenieur dann doch wenigsten einmal vom Pianisten niedergerungen werden musste, dessen Arbeit ansonsten das beeindruckende Spiel zu allerbester Geltung bringt.
Der Deutsche und die argentinische Meisterin
Es ist kein nationaler Chauvinismus: Schon in den drei 'Danzas argentinas' ganz zu Beginn kann Korstick nicht nur mit Marta Argerichs Referenzversion (1978 live aus dem Amsterdamer Concergebouw einst bei EMI veröffentlicht) mithalten, sondern übertrifft sie in den oben genannten schnellen Rahmentänzen in der klanglichen Plastizität (nicht nur der besseren Aufnahmetechnik) und rhythmischen Aggressivität, wobei er den Spieldauern der Argentinierin fast auf die Sekunde entspricht. Die zentrale lyrisch-kantable Episode der 'Danza de la moza donoso', von Bella Martha anfangs zurückhaltend, dann aber überraschend immer inbrünstiger gesungen, fächert Korstick, das Ganze etwas langsamer genommen, zur dreistimmigen Invention auf, deren Ausdruckstiefe fast erhebend durch zunehmende Klangverbreiterung entsteht und nach der Klimax noch ruhiger als bei Argerich in Korsticks leiserem Sich-Versenken nachhallt, bevor er anschließend das barbarische 'Allegro' des ‚vogelfreien Cowboys‘ gibt. Wie weit Korsticks Zugang pianistisch und klangkreativ der sonstigen Konkurrenz überlegen ist (insbesondere Vianis gar nicht mal schlechter Naxos-Gesamtschau), machen die grandiosen zwölf 'Preludios americanos' deutlich: Man möchte Chopins vorbildliche Vorspiele fast gar nicht mehr hören, so bunt, vielfältig ist die Welt dieser bislang sträflich unterschätzten Stimmungs- und Widmungsstücke (mit ‚Hommenajes‘ an Copland und Villa-Lobos, dessen Klaviermusik gegenüber Ginasteras hier so vehement protegierten Groß- und Kleintaten noch ein wenig mehr an modernem Anspruch und internationaler Bedeutung verliert). Eine schönere ‚Hommenaje‘ als dieses hörenswerte, allen Klavierbegeisterten und Pianistenkollegen dringend empfohlene Album kann dem Komponisten aktuell kaum erbracht werden.
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Detail-Informationen zum vorliegenden Titel:
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Ginastera, Alberto: Klavierwerke |
|||
Label: Anzahl Medien: Veröffentlichung: |
cpo 1 09.12.2016 |
Medium:
EAN: |
CD
761203506927 |
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Ginastera, Alberto |
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cpo Wohl kaum ein zweites Label hat in letzter Zeit soviel internationale Aufmerksamkeit erregt wie cpo. Die Fachwelt rühmt einhellig eine überzeugende Repertoirekonzeption, die auf hohem künstlerischen Niveau verwirklicht wird und in den Booklets eine geradezu beispielhafte Dokumentation erfährt. Der Höhepunkt dieser allgemeinen Anerkennung war sicherlich die Verleihung des "Cannes Classical Award" für das beste Label (weltweit!) auf der MIDEM im Januar 1995 und gerade wurde cpo der niedersächsische Musikpreis 2003 in "Würdigung der schöpferischen Leistungen" zuerkannt.
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