
Adam, Adolphe - Giselle
Verzerrte Unschuld
Label/Verlag: Arthaus Musik
Detailinformationen zum besprochenen Titel
Dramatisch und explosiv gibt sich eine nochmals bei Arthaus heraus gebrachte DVD mit der vom Schweden Mats Ek 1982 choreographierten Version von Adolphe Adams Ballett 'Giselle'.
Das anrührende romantische Ballett 'Giselle' Adolphe Adams spielt bei Ballett-Modernisierer Mats Ek nicht mehr beim Weinlesefest in einem rheinischen Winzerdorf. Ek verfrachtet mit dem Cullberg-Ballett die an der Untreue von Prinz Albrecht zerbrochene Giselle in eine psychiatrische Heilanstalt. Seine revolutionäre Neufassung von 1982 mit dem schwedischen Cullberg-Ballett hat er 1987 als Videoaufzeichnung für das schwedische Fernsehen mit der dramatischen Musikeinspielung des Orchestre National de l‘Opéra National de Monte Carlo unter Richard Bonygne produziert, die musikalisch mit knapp und gezielt zupackendem Zugriff ebenso überzeugt wie mit liebevoll-behutsamen lyrischen Gesten. Arthaus legt die Studioproduktion jetzt noch einmal auf.
Eks sehr nachhaltige, entromantisierende, in Grenzbereiche menschlichen Innenlebens vorstoßende Fassung ist seinerzeit stark beachtet worden. Wir erleben also eine aktuelle Auslegung des guten alten sowohl rührseligen als auch geisterspukenden Ballett-Klassikers von 1841. Das beginnt mit der sich ob ihres Verlassenheits-Traumas exaltiert quälenden Giselle der explosiv tanzenden Ana Laguna. Sie ist mit ihrer Baskenmütze die introvertiert und zugleich energisch auftretende Außenseiterin ihres Dorfes, die nun das Liebesgeschehen mit dem sie betrügenden, weil anderweitig gebundenen mondänen Albrecht nochmals retrospektiv durchlebt. Luc Bouy tanzt diesen noblen Städter alias Prinzen des Ballettklassikers diesmal im eleganten, cremefarbenen Frack eines Mannes von Welt.
Die Retrospektive bringt anstelle einer sanft linear fortschreitenden Handlung mit einer sich anbahnenden, dann kulminierenden und schließlich enttäuschenden Liebesbeziehung von Anfang an viele Brechungen und Brüche mit sich. Die Dekoration von Marie-Louise de Geer Bergenstråhle ist eine naiv stilisierte, grüne Naturlandschaft. Die biedermeierliche Betulichkeit von Mutter Bertha fehlt. Kleider werden getauscht, Kinderwünsche erfüllen sich nicht. Das tradierte Dorfleben ist außer Kraft gesetzt. Die oft abrupt eckigen und abgewinkelten Bewegungen des Modern Dance, deren sich Ek und sein Cullbeg-Ballett vehement befleißigen, unterstreichen diese wechselnden und unsteten Akzente noch.
Auch kann Ek damit die Kontraste zwischen Albrechts städtisch-eleganter Welt (mit Albrechts Partnerin Bathilde, die Vanesse McIntosh eher aufgeregt als hoheitsvoll tanzt) und dem dörflichen Bauernmilieu prägnant heraus bringen. Das Blumen-Orakel wird in diesem Kontext zur Artisten-Nummer. Giselles Huldigungstanz endet in einer veritablen psychischen Zusammenbruchs-Szene voller Dramatik: Eine plausible Lösung für diese Scène de folie. Die Natürlichkeit, Spontaneität und Unschuld des rheinischen Dorflebens nach Heines Vorlage werden verzerrt; zugunsten des Aufschichtens tänzerisch übereinander gestülpter Angst-Träume.
Keine Feerie
Kann da noch ein träumerischer Wilis-Akt als symmetrisch geordnete Feerie folgen? Natürlich nicht. Wir müssen uns unter der hoheitsvoll-neutralen Oberschwester Myrtha von Lena Wennergreen in die Psychiatrie der traumatisierten Mädchen in ihren weißen Zwangsjacken begeben, die am Ende Neuroleptika schlucken. Die ansonsten ausgewogen zwischen Totale und Nahaufnahme pendelnde Bildregie bleibt hier oft zu nah an den Akteurinnen und lässt die Übersicht auf die Beziehung zwischen Albrecht und den Wilis missen. Manisch-depressiv sehen wir in plakativem Ausdruckstanz schlurfendes Schleichen und exaltiertes Springen der Wilis. Verhinderte Gebärerinnen ringen mit ihrem Schicksal.
Giselle robbt unter einem Laken ihrem zudringlichen Hilarion (hoch erregt von Yvan Auzely getanzt) entgegen. Ihren aufgedrehten Part exekutiert Ana Laguna mit hinreißender Explosivität. Das alles ist die totale Institutionalisierung einer klaustrophobischen Welt. Kein Ausblick in eine überwindende Transzendenz mit offenem Ausgang entweder für Albrechts Verdammnis oder für seine Erlösung tut sich auf. Und auch tänzerisch ist Eks Abarbeitung der Konflikte von zu abrupten Motionen zur weitgehend abgeklärten Musik Adams durchsetzt. Promi Albrecht verliert am Ende mit seiner Anzugs-Seide auch seine Attraktivität und rollt in einer wenig plausibel geläuterten Nacktheit umher, der nicht einmal mehr die gezückte Mistgabel des Bauern etwas antun will.
Und was Ek natürlich auf jeden Fall schuldig bleibt, ist die angemessene historische Lotzierung dieses Wilis-Aktes in die Kette der berühmten ‚Ballets blancs‘, als da sind 'La Sylphide' 1832, unsere jetzige 'Giselle' 1841, 'Schwanensee' 1877/1895 und 'Les Sylphides' 1909. Da fällt Eks 'Giselle' vollkommen aus der Reihe. Seine Version stellt sich völlig gegen die Balletthistorie. Von all dem sagt das karge, nichtssagende Textheft der DVD, das sich lediglich auf das Personenverzeichnis des Abspanns beschränkt, nichts. So bleibt Mats Eks innovative 'Giselle' auch in dieser Studioproduktion bei all ihrer tänzerischen Brisanz, Modernität und inneren Folgerichtigkeit doch im Kontext der historischen Ballettentwicklung zu weit draußen und damit abseitig.
Interpretation: Klangqualität: Repertoirewert: Booklet: Features: Regie: |
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Detail-Informationen zum vorliegenden Titel:
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Adam, Adolphe: Giselle |
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Label: Anzahl Medien: Veröffentlichung: |
Arthaus Musik 1 28.10.2016 |
Medium:
EAN: |
DVD
4058407092803 |
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Adam, Adolphe Charles |
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Arthaus Musik Arthaus Musik wurde im März 2000 in München gegründet und hat seit 2007 seinen Firmensitz in Halle (Saale), der Geburtsstadt Georg Friedrich Händels. Zahlreiche Veröffentlichungen des Labels wurden mit internationalen Preisen ausgezeichnet, darunter der Oscar-prämierte Animationsfilm ?Peter & der Wolf? von Suzie Templeton, die aufwändig produzierte ?Walter-Felsenstein-Edition? und die von Sasha Waltz choreographierte Oper ?Dido und Aeneas?, die beide den Preis der deutschen Schallplattenkritik erhielten. Mit dem Midem Classical Award wurden u. a. die Dokumentationen ?Herbert von Karajan ? Maestro for the Screen? von Georg Wübbolt und ?Celibidache ? You don?t do anything, you let it evolve? von Jan Schmidt-Garre ausgezeichnet. Die Dokumentation ?Carlos Kleiber ? Traces to nowhere? von Eric Schulz erhielt den ECHO Klassik 2011. Mit der Tochterfirma Monarda Arts besitzt Arthaus Musik eine ca. 900 Produktionen umfassende Rechtebibliothek zur DVD-, TV- und Onlineauswertung. Seit 2007 entwickelt das Unternehmen kontinuierlich die Sparte Eigenproduktion mit der Aufzeichnung von Opern, Konzerten, Balletten und der Produktion von Kunst- und Musikdokumentationen weiter. Arthaus Musik DVDs und Blu-ray Discs werden über ein leistungsfähiges Vertriebsnetz, u.a. in Kooperation mit Naxos Global Distribution in ca. 70 Ländern der Welt aktiv vertrieben. Darüber hinaus veröffentlicht und vertreibt Arthaus Musik die 3sat-DVD-Edition und betreut für den Buchhandel u.a. die Buch- und DVD-Edition über Pina Bausch von LArche Editeur, Preisträger des Prix de lAcadémie de Berlin 2010. Mehr Info... |
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