
Billone, Pierluigi - Sgorgo
Ungewöhnliche Klangreise
Label/Verlag: Kairos
Detailinformationen zum besprochenen Titel
Der E-Gitarrist Yaron Deutsch interpretiert Pierluigi Billones Komposition 'Sgorgo Y - N - oO' und nimmt den Hörer in eine außergewöhnliche Klangwelt mit.
Pierluigi Billone (* 1960) macht es weder den Interpreten noch den Hörern einfach. Seine Musik ist herausfordernd, weil sie auf vielen Ebenen die Extreme sucht und auskostet. So scheint es zunächst einmal schwer vorstellbar, was uns angesichts der Komposition 'Sgorgo Y - N - oO' (2012) erwartet: eine dreiteilige Komposition für E-Gitarre, die in ihrer Gesamtheit eine Aufführungsdauer von rund 75 Minuten umfasst. Auch wenn die E-Gitarre in der zeitgenössischen Musik inzwischen relativ häufig als Ensembleinstrument eingesetzt wird: Große Solostücke (man mag dabei etwa an Steve Reichs 'Electric Counterpoint' von 1987 und an Fausto Romitellis 'Trash TV Trance' von 2002 denken) sind, wie Barbara Eckle gleich zu Beginn ihres exzellenten Booklettexts zu Recht festhält, ‚bei aller Aufgeschlossenheit, Stile und Genres zu fusionieren, bis heute eine Rarität‘. Billone hat sich dieser Aufgabe gestellt und für den Gitarristen Yaron Deutsch ein Triptychon geschrieben, das von Anfang an zweierlei leistet: Einerseits überschreitet es ständig die gedanklich mit der E-Gitarre verknüpfte Klangwelt, andererseits sorgt es jedoch auch dafür, dass die eigentliche Bedingung der Klangproduktion – der elektrische Strom – immer präsent bleibt.
Bereits in der voluminösen und hellen Klangwelt des eröffnenden 'Sgorgo Y' – das 'Y' verweist auf Yaron Deutsch als Widmungsträger – nimmt der zuletzt genannte Aspekt großen Raum ein, da der Komponist dem konstanten Brummen des Gitarrenverstärkers eine wichtige Rolle zuweist: In den teils stark gedehnten Räumen zwischen den oft gestisch geprägten Klangraumerkundungen wird es isoliert, tritt in den Vordergrund und öffnet das Tor zu einer nicht-akustischen Welt, die immer wieder mit dem musikalischen Agieren Deutschs in Beziehung tritt. Dass Billone hier und in den übrigen Abschnitten durchweg auf E-Gitarrenklischees wie Wah-Wah oder Feedback verzichtet und auch die Verzerrung nur extrem selten einsetzt, erweist sich nicht etwa als Einschränkung, sondern ist die Grundbedingung für einen Zugang, der sich feinster Nuancen bedient: Zarteste Berührungen der Saite mit den Fingern hinterlassen hier Klangspuren, die durch Effektgeräte wie ‚pitch shifting‘ beeinflusst werden, während der Einsatz eines ‚whammy bar‘ permanent für die Veränderung der Saitenspannung führt und die Klänge auf unterschiedliche Weise ins Gleiten bringt.
Gegenüber dem ersten Teil wird in 'Sgorgo N' das musikalische Geschehen in die tieferen Register verlegt. Der Gitarrist entfaltet hier Klänge, deren Langsamkeit und Ruhe auf die Inspirationsfigur Luigi Nono – im Titel durch das 'N' angezeigt – verweist. Die Musik wirkt fokussierter und rückt näher an den Hörer heran; dem Klang des Instruments wird eine synthetische Komponente eingeschrieben, sodass er mitunter an die samtige Tongebung einer Klarinette erinnert, und selbst das elektronische Brummen findet zu einem weitaus stärkeres Maß an Intimität. 'Sgorgo oO' wiederum ist als Kulminationspunkt des Triptychons angelegt, in dem der Komponist Elemente aus den vorangegangenen Abschnitten synthetisiert und sie schließlich einer Coda aus manipuliertem Verstärkerbrummen zuführt. Dass all dies kompositorisch bis in die kleinsten Details durchdacht ist, verdeutlichen zwei im Booklet abgedruckte Notentext-Beispiele und ein doppelseitiges Faksimile aus der Handschrift: Mit ihren jeweiligen grafischen Anordnungen können die Abbildungen als verschriftlichtes Zeugnis für Billones sparsamen Umgang mit den gewählten musikalischen Gestalten und Klangzuständen dienen und unterstreichen zudem, welche große Bedeutung das gestische Moment für sein Komponieren besitzt.
Dem österreichischen Label Kairos gebührt großes Lob, nach der 2007 erschienenen CD mit Billones Bassklarinettenduo '1+1=1' nun auch dieses in seiner Art einzigartige und faszinierende Werk produziert zu haben. Yaron Deutschs konzentrierte Aneignung und Umsetzung von 'Sgorgo Y - N - oO' – von ihm selbst im Booklet auch anhand eines kurzen Erfahrungsberichts beschrieben – erweist sich durchweg als sicherlich nicht leichte, aber dennoch höchst lohnenswerte Kost für all jene, die neugierig und geduldig genug sind, um sich auf diese sehr ungewöhnliche Klangreise einzulassen.
Interpretation: Klangqualität: Repertoirewert: Booklet: |
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Detail-Informationen zum vorliegenden Titel:
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Billone, Pierluigi: Sgorgo |
|||
Label: Anzahl Medien: Veröffentlichung: |
Kairos 1 30.12.2016 |
Medium:
EAN: |
CD
9120040735166 |
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