
Telemann, Georg Philipp - Adventskantaten
Ein Schatzkästlein geistreicher geistlicher Arien
Label/Verlag: cpo
Detailinformationen zum besprochenen Titel
Bitte entfernen Sie Ihr übliches November-trübes Lied-Programm rechtzeitig aus Ihrem CD-Player. Denn diese Advent-Solo-Gesänge Telemanns bieten tatsächlich musikalische Lyrik, die Seelen mit offenen Ohren nach den depressiven Herbsttagen zur (Vor-)Weihnachtszeit wieder positiv erbaut.
Unter dem Titel ‚Advent Cantatas‘ finden sich hier keineswegs jene mehrsätzigen, auch Chorisches umfassenden Gebilde, die wir gemeinhin unter dem Gattungsbegriff erwarten. Auch keine Solo-Kantaten italienisch-konzertanter Prägung wie Bachs 'Jauchzet Gott in allen Landen'. Wiewohl ‚Cantata‘ schon ganz allgemein alles Gesungene meinen kann, bezeichnet der nicht ganz sauber betitelnde Begriff hier 18 ‚geistliche Arien‘ – und zwar geschlossen aus dem 2012 erschienenen, von Wolfgang Hirschmann herausgegebenen Band 57 der Telemann-Gesamtausgabe, welche den Arien-Druckjahrgang 1727 zusammenstellt.
Telemann ließ damals in Hamburg nicht nur neueste Kantaten-Jahrgänge subskribieren, sondern hier ganz spezifisch auch einen ‚Auszug der derjenigen musicalischen und auf die gewönlichen Evangelien gerichteten Arien, welche in den Hamburgischen Haupt-Kirchen durch 1727. Jahr vor den Predigten aufgeführet werden, bestehend aus einer Singe=Stimme nebst dem General-Basse und verfertiget von G. F. Telemann. Hamburg, zu bekommen im Kißber‘schen Buchladen‘ (das passt natürlich als CD-Titel kaum auf das Cover). Ute Poetzsch perspektiviert in ihrem für cpo-Verhältnisse eher knappen, konzentrierten Einführungstext dann auch den Blickwinkel eines über den öffentlichen Gottesdienst hinausgehenden ‚großbürgerlichen‘ Publikums, welche solche Sammlungen wohl auch privat (und jenseits Hamburgs) für Hausandachten anschaffte, quasi schon zum besinnlichen Musizieren im eigenen ‚Salon‘.
Somit hat Telemanns Arien-‚Auszug‘ wohl schon so etwas wie eine ‚Songbook‘-Funktion: Auf der CD enthalten sind also – als Ausschnitt aus dem ‚Auszug‘ – die öffentlich im Dezember 1726 in den Kirchen aufgeführten geistlichen ‚Arien‘ (der Formen nach), welche Telemann 1727 in gezielten Bearbeitungen für Solostimme und Begleitung veröffentlichte; für das kleine heimische Adventskonzert 1727 genügte schon ein Cembalo, wir haben also durchaus mit Vorstufen des klassisch-romantischen Lieder-Wesens zu tun, einer kleinen Advents- statt Winterreise, die sich an konzentrierte Hörerinnen und Hörer mit Sinn für die intimen Wort-Ton-Beziehungen richtet.
Telemanns ‚Advent-Songbook 1727‘: Kirchen-Arien als bürgerliche Lied-Kunst
Der vorliegende Mitschnitt einer Magdeburger ‚Sonntagsmusik‘ (Nr. 531 vom 1. Dezember 2013) folgt der Systematik einer Feiertags-Chronologie: Nach dem allgemein einleitenden 'Ach, so lass von dir mich finden' als Motto-Arie hinsichtlich der erwünschten besinnlichen Hörhaltung sind im folgenden den vier Adventssonntagen sowie den drei Weihnachtsfeiertagen und zur Rückbesinnung an den beiden folgenden Sonntagen jeweils zwei Arien zugeordnet (am dritten Advent nur eine). Die knappen Texte, in den musikalischen Ritornell-Strukturen mehrfach rezitiert, laden unmittelbar zu pietistischer Versenkung ein mit so schönen Zeilen wie ‚Schon auf Erden muss das Herz ein Himmel werden‘ (1. Advent). Und die ausgezeichneten fünf Musiker des GSOCOnsort vermitteln durch lebendigen, intensiven Vortrag die Qualitäten der kompositorischen Fantasie Telemanns, der sich in der Tat um ein enges Zusammenspiel der worttragenden Singstimme mit ihrem instrumentalen und satztechnischen Gegenpart bemüht hat.
Durchgehend wird damit die Cellistin Christine Schwark zur darstellerischen Hauptinstanz der wahrlich auch instrumental beredten Basso-Partie, in die bereits auch tragende rhythmische Elemente eingearbeitet sind: Großartig etwa der feinsinnig untermalte Affektwechsel in 'Besser, nie geboren' (2. Weihnachtstag), wo ‚die Schlangen in den faulen Lüsten‘ sich im Cello-Part geradezu bedrohlich herauswinden. Neben der besonders beeindruckenden Schwark bieten auch die hervorragend, da zurückhaltend und doch füllig ausgesetzten Partien von Michael Freimuth (Laute, Theorbe) und Wolfgang Brunner (wechselnd Cembalo und Orgel-Positiv) eine mir ideal erscheinende Umsetzung der instrumentalen Möglichkeiten des Instrumentalparts.
Cellistin Christine Schwark ist heimlicher Star der Aufnahme
Das intime Musizieren mit der Continuo-Gruppe erlaubt den beiden Sängern erst die eindringliche Gestaltung von Worten und Affekten, die bei dieser Aufnahme schnell mitnimmt. Gudrun Sidonie Otto nutzt ihren herrlich leichten und klaren Sopran für einen dynamisch sehr differenzierten, bestens intonierten Vortrag nebst schöner kleiner freier Verzierungen und Varianten in den Ritornellen. Ihren Arien in hoher Lage stehen in der im Druck auch vorgesehenen tiefen Lage (Bariton bzw. Alt) die nachdenklichen Zwiegespräche Ingolf Seidels – ein ebenfalls eher heller, beweglicher Bariton – vor allem mit dem Cello gegenüber. Ganz eindrucksvoll auch von der Komposition her das melancholische Spiel der zunächst unbegleiteten Solostimme Seidels in 'Du allein, Jesu, sollst mir alles sein' mit der Begleitung bis hin zum jenseitig-instrumentalen Echo seines instrumentalen Doubles.
Gudrun Sidonie Otto und Ingolf Seidel im Affekt-Wechselspiel
Wehmut höchstens bei der Spieldauer: Erst die beiden mit anderer Besetzung – u.a. mit Karl Nyhlin am Gallichon und dem Altus David Erler – hinzugefügten Arien zum ‚zweiten Sonntag nach dem Fest der Erscheinung‘ überdauern 50 Minuten (wahrscheinlich gehören diese beiden Aufnahmen nicht zum Magdeburger Konzert vom 1. 12. 2013, entsprechende Informationen fehlen leider). Diese nun vierundfünfzig Minuten sind von Telemann und Gudrun Sidonie Ottos Consort aber so dicht, so anregend gestaltet, dass man wohl an jedem Advent- und Weihnachtstag nicht nur die passenden ‚Türchen‘-Arien, sondern gerne wieder alles hören möchte.
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Detail-Informationen zum vorliegenden Titel:
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Telemann, Georg Philipp: Adventskantaten |
|||
Label: Anzahl Medien: |
cpo 1 |
Medium:
EAN: |
CD
761203795529 |
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Telemann, Georg Philipp |
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cpo Wohl kaum ein zweites Label hat in letzter Zeit soviel internationale Aufmerksamkeit erregt wie cpo. Die Fachwelt rühmt einhellig eine überzeugende Repertoirekonzeption, die auf hohem künstlerischen Niveau verwirklicht wird und in den Booklets eine geradezu beispielhafte Dokumentation erfährt. Der Höhepunkt dieser allgemeinen Anerkennung war sicherlich die Verleihung des "Cannes Classical Award" für das beste Label (weltweit!) auf der MIDEM im Januar 1995 und gerade wurde cpo der niedersächsische Musikpreis 2003 in "Würdigung der schöpferischen Leistungen" zuerkannt.
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Der Pianist und Organist Aurel Davidiuk im Gespräch mit klassik.com.
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