
Karl Richter Edition - Werke von Bach, Mozart, Haydn, u.a.
Früher Richter zur historischen Repertoire-Erkundung
Label/Verlag: Profil - Edition Günter Hänssler
Detailinformationen zum besprochenen Titel
Um einmal Karl Richter als Interpreten richtig kennenzulernen, ist dieses zum 90. Geburtstag der deutschen Bach-Koryphäe der Nachkriegszeit geschnürte 31-CD-Paket nicht nur in der Weihnachtszeit gut geeignet.
Anlässlich des 90. Geburtstags des vor allem in München tätigen Dirigenten und Organisten am 15. Oktober sind die in den letzten Jahren von der Firma Profil Medien unter dem Label Edition Günter Hänssler als ‚Karl Richter Edition‘ veröffentlichten Telefunken-Aufnahmen Richters nun in einer gewichtigen 31-CD-Box mit weiteren geradezu ‚historischen‘ Einspielungen neu erschienen. Hier finden sich nun auch die frühesten Aufnahmen aus der Archiv-Produktion der Deutschen Grammophon Gesellschaft, angefangen mit den im November 1953 aufgezeichneten 'Musikalischen Exequien' von Heinrich Schütz und dem – 1954 von Decca schon stereo produzierten – Orgel-Recital auf der Orgel der Genfer Victoria-Halle. Wobei man gleich das Edieren in dieser doppelten Richter- und Hänssler-Edition kritisch ins Auge fassen muss: Die verlässlichen Daten oben stammen nämlich keineswegs aus dem dünnen Begleitheft; vielmehr ist ein historisch interessierter Sammler oder Bibliothekar gezwungen, die komplette Provenienz nahezu aller Aufnahmen selbst zu recherchieren: Angaben zum genaueren Aufnahmedatum und -ort sowie verantwortlicher Plattenfirma (nebst Produzenten) sucht man in dieser Billig-Edition vergebens (einzig für die ersten sechs schon früher bei Profil zusammengestellten CDs hatte sich einst wohl ein Label-Mitarbeiter die Mühe gemacht, zumindest das Jahr der Aufnahme oder des Erscheinens in einer Klammer dazuzusetzen). Das bloße Zusammenschustern in vielfacher Form vorhandener, inzwischen gemeinfreier Archivschätze schlägt sich jedenfalls in inkonsistenten, meist nur halbseitigen Inhaltsangaben mit diversen Tipp- und Sachfehlern nieder (Hertha Töpper erscheint so internationalisiert etwa als Frau ‚Toepper‘, obwohl für München ja fraglos das ‚ü‘ zur Verfügung steht; bei der Matthäus-Passion wird einfach der ganze Besetzungsanhang mehrmals grafisch unterschiedlich kopiert, bei der h-Moll-Messe fehlen die kompletten Sängersolisten-Angaben usw.). Hier also ein klares Mangelhaft für die ‚Editoren‘ und der Hinweis, dass man sich Informationen eigentlich umgehend schon im Internet (http://www.bach-cantatas.com/NVP/Richter-K.htm#Orch) beschaffen könnte und sollte.
Editorisch katastrophal, interpretatorisch phänomenal
Aufführungsgeschichtlich sind Richters hier versammelte Einspielungen nämlich durchaus eindrucksvolle Artefakte vor allem des deutschen Bach-Bildes der Nachkriegs-Wirtschaftswunderjahre – 21 CDs sind ausschließlich dem berühmtesten Thomas-Kantor gewidmet – wie auch einer Übertragung von Richters Klangästhetik auf Händel (5 CDs), Mozart (3) und Joseph Haydn (2); ein kleiner Ausschnitt aus Mendelssohns 'Elias' mit Richters Lieblingssopranistin Maria Stader fügt sich auch in das Bild ein, weniger hingegen die gleich darauf folgenden, etwas zu massiv und statisch mit dem Münchner Heinrich Schütz-Kreis zelebrierten 'Exequien'.
Für Bach entwickelte Richter schon früh eine Art Markenprofil, dessen klangästhetische Komponenten aus heutiger Sicht ungeheuer kompatibel zu Herbert von Karajans Ideal-Vorstellungen einer ‚zeitlos‘ perfekten Musik-Darstellung auf Tonträgern erscheinen: Schon in den Orchesterwerken – Bachs 'Brandenburgischen Konzerten' in der Telefunken-Aufnahme von 1958 und den vier Suiten von 1960/61 – fällt das Streben nach größtmöglicher technischer Makellosigkeit und Klangschönheit auf, was Richter ganz ‚neusachlich‘ wie Karajan durch strikte Orientierung an einem anfänglich festgelegten, in seiner Beibehaltung manchmal geradezu mechanisch wirkenden ‚Großrhythmus‘ untermauert (in englischsprachigen Kritiken fällt hier oft das Wort ‚metronomical‘). Kennt man Karajans eigene Bach-Aufnahmen um 1964 (auch die BBK und zwei Suiten mit den Berlinern Philharmonikern in verkleinerten Besetzungen), fällt die gemeinsame Art der Klang-Idealsierung sofort auf, also auch die naheliegende Wahl Richters als Frontmann der Archiv Produktion bei Karajans Hauptlabel der 1960er Jahre.
Richters Streicher klingen sogar manchmal noch glänzender, und besonders der Berlin-erfahrene, mit Richter eng verbundene und dauereingesetzte Flötist Aurèle Nicolet fügt sich mit vollkommen plastischem Ton da ideal ein bei Bach (auch als Solist in Kantaten) sowie den drei ‚Flöten-CDs‘ mit Bach-Sonaten und vier Konzerten von Mozart und Leopold Hofmann (im Booklet wird dessen Konzert immer noch als Komposition von Haydn ausgegeben). Ähnliches gilt etwa für den Trompeter Adolf Scherbaum, u.a. im zweiten 'Brandenburgischen Konzert' (wofür ihn Karajan 1964 ebenfalls einsetzt).
Das Ziel eines ‚historisch informierten‘ oder gar ‚authentischen‘ Musizierens ist diesen Interpretationen um 1960 in einer Weise fremd wie die Absicht evident, im Sinne der Komponisten eine möglichst texttreue und technisch makellose Werk-Darstellung auf Tonträger scheinbar ‚für die Ewigkeit‘ aller Nachwelten zu manifestieren. Das zeitigte einerseits die kritischen Aspekte wie das ‚Metronomische‘, führte aber andererseits durchaus nicht zu einer ‚Erstarrung in Perfektion‘ (die weder bei Karajan noch Richter prinzipiell oder objektiv festgestellt werden kann), sondern ließ in der Tradition aller Vorläufer seit dem 19. Jahrhundert, die synthetisch noch in den Tonträger-bedingten ‚neuen‘ perfektionierten Klang einfließen, sogar noch ein gehöriges Maß an instrumentaler und vokaler Expressivität zu, die heute wieder unbefangen als zeittypisches, aber auch individuelles Vermögen der versammelten ‚großen‘ Interpret/inn/en um 1960 wahrgenommen werden kann. In diesem Sinne sind Richters Aufnahmen spannende Zeugnisse einer wohl gleichfalls bedeutenden ‚historischen Aufführungspraxis‘ und ‚zeitlose‘ Dokumente des künstlerischen menschlichen Ausdrucks von höchster Relevanz und Intensität. Und nach dieser General-Schau folgen jetzt noch – Geduld und Interesse der Leserinnen und Leser vorausgesetzt – Betrachtungen einzelner Segmente und Aufnahmen dieser großen Karl-Richter-Schau.
Orchesterwerke Bachs und Händels
Gemessen an Karl Münchingers etwas früheren Stuttgarter Kammerorchester-Aufnahmen klingen Richters Ersteinspielungen von Bachs Gruppenkonzert- und Suiten-Zyklen feierlich-gesetzter, weniger rhythmisch-sportiv, sondern im Sinne der Tradition tatsächlich noch ‚symphonisch‘. Die Breite der Tempi ist nach den Geschwindigkeits-Exzessen der unzähligen historisierenden Neuaufnahmen nach Harnoncourt (der noch relativ gemäßigt) oder Musica Antiqua Köln eher relativ zur Entstehungszeit zu betrachten: Man sollte wissen, was einen grundsätzlich erwartet an Schwerfälligkeit aus heutiger Sicht, und umso überraschender ist dann, dass auch manches langsame Tempo mit der passenden Art des Musizierens berühren und gefallen kann (spätestens, wenn die Geduld zu mehrfachem genauem Hören aufgebracht wird). Das betrifft vor allem auch die Orgelkonzerte Opus 4 und Opus 7 von Händel, die Richter vom Soloinstrument aus durchaus als Reflexion des Musikalisch-Erhabenen statt als Pausen-Intermezzo von Oratorienaufführungen angeht (diese Interpretation ist ja an jener historischen Schnittstelle von Sakralem und gesellschaftlichem ‚Event‘ nicht ganz fernliegend und trifft sicher die Vorstellung und den Geschmack einiger Hörer ganz genau). Und das 'Musikalische Opfer' (Archiv Produktion 1963) enthält gleich eingangs eine genauso konzentrierte, ausdrucksmächtige Cembalo-Grundierung, welche mit dem polyphonen Stimmenspiel im folgenden auch der Flöte (Nicolet) und Streicher das Werk als geradezu philosophisch erhabenen Klang-Diskurs purer satz- und spieltechnischer Schönheit adelt.
Mozart und Haydn
Unter den Nicolet-Aufnahmen ragt sicherlich das Konzert für Flöte und Harfe (KV 299) heraus, auch aufnahmetechnisch. Tatsächlich entwickelt hier Richter einen rhythmischen Puls und orchestralen Überschwang, der die Solisten mitreißt (Rose Stein als Harfenistin ist im Booklet nicht angegeben); umgekehrt vermisst man gerade die Impulse des Flötisten im etwas konfektioniert-langweiligen ‚Haydn‘-Hofmann-Konzert. Und auch in Richters Ausflug mit den Berliner Philharmonikern – ‚Paukenschlag‘- und ‚Uhr‘-Symphonien – setzt diesmal der Dirigent kaum Impulse, welche neben dem akuten Geschehen übergreifend die Dramaturgie der Satzanlagen verdeutlichen (was die Überlegenheit anderer in diesem Metier doch deutlich macht). Umso überragender, was Richter mit seinem Münchener Bach-Chor und Orchester 1961 in Mozarts Requiem geleistet hat (Telefunken-Einspielung): Die Präzision der Choreinsätze, die Homogenität der Chorstimmen und das Profil der vier Solisten ergeben eine der Zeitästhetik entsprechende Referenzeinspielung, deren Anschaffung auch bei Verzicht auf die Gesamtbox unbedingt zu empfehlen ist.
Elf Kantaten und vier ‚größere‘ Chorwerke Bachs
Ein Einhören in den Referenzstatus gerade der früheren Einspielungen mit Vokalwerken Bachs – und als Nebenprodukt einiger Arien Händels sowie einer Kantate von Alessandro Scarlatti mit Maria Stader und Ernst Haefliger (1962) – setzt ebenfalls voraus, dass man zunächst die Vorurteile aus Sicht einer alleingültigen ‚historisch authentischen‘ Perspektive vergisst – jene ‚stilistische Sackgassen-Position Richters hinsichtlich der chorischen Seite‘ (Martin Elste 2000, S. 229) als Annahme, welche nur auf dem falschen Fortschrittsdenken eines vermeintlich besseren, ‚richtigeren‘ Interpretierens beruht – und sich stattdessen die unmittelbare Orientierung musikalischer Interpretation an die Ausdeutung der gesungenen Texte und affektbedingten Charaktere der Musikstücke bewusst macht. Und da vermag vieles zu beeindrucken: der keineswegs langsame und zu dicke Eingangschor der Matthäus-Passion (Archiv Produktion 1958) nebst Evangelist Haefliger und dem voluminösen Arien-Erleiden von Hertha Töpper (diesmal richtig geschrieben) und dem jungen Fischer-Dieskau; der fast schon sportive Einstieg in die Kantate 'Es sei dir gesagt. Mensch' (BWV 45), dem ein geradezu opernhaftes Idyll gegenübersteht im pastoral gedeuteten Eingangschor von 'Lieber Gott, wann wird‘ ich sterben' (BWV 8); die individuelle Farbe der fast vergessenen Sopranistin Maria Stader, die man nur andeuten kann, wenn man sie vergleicht mit Emma Kirkby, gespritzt mit einem schönen Maß lebhafter Begeisterung und einem noch erträglichen Maß Vibrato (u.a. 'Jauchzet Gott in allen Landen‘, aber auch Mozarts Requiem und Arien von Händel, Haydns 'Schöpfung' und Mendelssohn).
Klanglich sind die älteren Kantaten-Aufnahmen – ab 1957 teils von der Bach-Woche Ansbach, Telefunken, meist etwas enges Stereo – und das noch ältere Weihnachtsoratorium (1955) gut restauriert, auch wenn die Prozeduren natürlich von Profil nicht angegeben sind (bei der Frage Mono oder Stereo darf man raten, manchmal ohne Kopfhörer gar nicht so einfach, da ein guter Mono-Klang um 1955 plastischer klingen kann als Telefunkens ‚elektrisches‘ Stereo). Vom Sound her etwas ganz Besonderes ist übrigens Richters Einspielung der Cembalo-Partiten von Bach, in der er, das Instrument (welches?) ganz nah aufgenommen, geradezu wie ein Organist auch die Tanzsätze ‚registriert‘. Die klirrenden Nebengeräusche, die ja viele Cembaloaufnahmen dieser Zeit, etwa auch bei Ralph Kirkpatrick, stören, sind sogar so etwas wie eine historische Signatur der Goldberg-Variationen auf ‚Originalinstrumenten‘ Ende der 1950er Jahre, wobei hier jedoch Richters Aufnahme von 1956 das vielleicht am wenigsten genießbare Stück der ganzen Box darstellt. Zum Glück ist diese vom Booklet her spartanische Edition musikalisch doch überwiegend lukullisch konsumierbar und wird sicherlich (oder hoffentlich?) zu vielen alten und neuen Karl-Richter-Freunden finden.
Interpretation: Klangqualität: Repertoirewert: Booklet: |
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Detail-Informationen zum vorliegenden Titel:
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Karl Richter Edition: Werke von Bach, Mozart, Haydn, u.a. |
|||
Label: Anzahl Medien: Veröffentlichung: |
Profil - Edition Günter Hänssler 31 28.10.2016 |
Medium:
EAN: |
CD
881488160109 |
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Bach, Johann Sebastian |
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Profil - Edition Günter Hänssler Profil - The fine art of classical music
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