
Gustav Mahler - Sinfonie no. 10
Einfühlsamer Umgang mit dem Torso
Label/Verlag: WERGO
Detailinformationen zum besprochenen Titel
Kann diese Aufführungsfassung von Gustav Mahlers Zehnter Sinfonie bestehen?
Die Antwort auf die Frage, ob hier die beste Aufführungsfassung von Mahlers Sinfonie Nr. 10 vorliegt, kann nur 'keine Ahnung' lauten. Wer kann das schon wissen? Wer weiß denn mehr als Mahler selbst? Ebenso wie der Dirigent, Realisator und Weiterentwickler des Materials von Mahler Yoel Gamzou persönlich wird, sei dies auch mir als Rezensenten gestattet. Lange schon setze ich mich mit der Musik Gustav Mahlers auseinander und habe es ebenso lange verweigert, mich mit den Aufführungsfassungen der Zehnten Sinfonie, von der es beileibe viele gibt, auseinanderzusetzen. Ein Fehler, wie sich vor fast drei Jahren herausstellte, aber ein doch nachvollziehbarer, wenn man bedenkt, dass mit diesen Fassungen viel vorliegt, nur eben nie das, was Mahler letztlich getan hätte.
Was sich über die bei Wergo erschienene Platte mit dem International Mahler Orchestra unter Yoel Gamzou sagen lässt, ist, dass es Gamzou als Musiker gelungen ist, eine einfühlsame, auch individuelle Aufführungsfassung des von Mahler hinterlassenen Torsos zu schaffen. Sie wird hochsensibel, präzise und mit einem Hang zum Realistischen und Schnörkellosen musiziert, wie es von Pierre Boulez als Mahler-Dirigenten vertraut scheint. Sicherlich ein Muss für Mahler-Experten. Mahler-Liebhaber tun sich vielleicht schwer und Anfängern ist von den Vervollständigungen ehrlich abzuraten.
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Bisherige Kommentare zu diesem Artikel
Rein in die Materie
Ich persönlich beschäftige mich schon eine ganze Weile mit der Zehnten. Ich kann nur jedem empfehlen seine Vorurteile beiseite zu lassen und sich ein wenig schlau zu machen. Das Werk ist nämlich mitnichten unvollendet in dem Sinne, dass noch Musik zu komponieren wäre, wie es zum Beispiel bei Mozarts Requiem, oder Schubert's Unvollendeter, der Fall ist. Die Konzeptionsphase ist komplett abgeschlossen gewesen, was noch fehlt ist die vollständige Ausarbeitung der Nebenstimmen und die Orchestrierung. Das kann man vielleicht damit vergleichen wenn ein Maler ein Deckenfresko nicht beendet hat, aber die fehlenden Teile an der Decke nicht etwa vollständig erraten werden müssen, sondern in schwarzweiß Skizzen auf Papier vorliegen. Am überzeugendsten, weil zurückhaltensten ist nach all den Jahren immer noch die Cooke Fassung, die in aller Bescheidenheit auch nur "Aufführungsfassung" genannt wird, anstatt "Vervollständigung". Sie klingt am ehesten so wie Mahler seine letzten beiden abgeschlossenen Werke orchestriert hat. Andere Fassungen schlagen da deutlich in ihrer Farbigkeit über die Stränge. Die Partitur im Faber Verlag erschienen kann ich sehr empfehlen, weil man dort auf jeder Seite komplett nachvollziehen kann was bei Mahler schon stand und was ergänzt werden musste.Farlis, 10.05.2018, 13:52 Uhr
Registriert seit: 10.01.2006Scheinbare Vorurteile und Mahlers Arbeitsweise
Farlis, herzlichen Dank für Ihre Anmerkungen. Ihr Vorschlag Vorurteile beiseite zu lassen, begrüße ich sehr und eine Auseinandersetzung mit der Thematik ist wirklich sehr anzuraten. Ein lesenswerter Literaturtipp hierzu ist die Studie meines Tübinger Kollegen Jörg Rothkamm "Gustav Mahlers zehnte Symphonie. Entstehung, Analyse, Rezeption" (Frankfurt am Main [u.a.] 2003), die vor allem mit vielen Gerüchten bezüglich des Zustandes der Ausarbeitungen Mahlers aufräumt. Der Zustand dieser ist nämlich bei weitem problematischer als im Fall von Mozarts Requiem und Schuberts Unvollendeter. Die Konzeptionsphase ist bei den späteren Sinfonien Mahlers immer erst dann abgeschlossen gewesen, wenn er in der Regel nach zwei Komponierensommern die Partitur in Reinschrift abschloss. Daher haben es auch viele seiner Zeitgenossen abgelehnt die Sinfonie aufführungsreif zu machen, da selbst das oft gespielte Adagio in dem Sinne nicht abgeschlossen ist. Leider hinkt der Vergleich mit dem Deckenfresko, da ein Fresko bekanntlich feucht gemalt wird und Skizzen hier noch problematischer wären, da ein Künstler im Moment des Malens Entscheidungen fällen muss, die sich überhaupt nicht vorplanen lassen. Mit Cooke gebe ich Ihnen vollkommen Recht, allerdings hat er bekanntlich mehrere Anläufe benötigt (auch mit verschiedenen Mitarbeitern) und die bei Faber erschienene Partitur (ich vermute sie meinen seine letzte Fassung) suggeriert etwas, was in den Skizzen Mahlers und dem auch vorhandenen Faksimile so nicht steht. Aber darauf hat Cooke selbst hingewiesen und war sich dessen schmerzlich bewusst, was auch im Vorwort der benannten Partitur nachzulesen ist. Deshalb wählte ich auch für meine Kurzbesprechung den Terminus des Torso, der in der Musikwissenschaft Forschungsliteratur zwischenzeitlich eine klare Definition erfahren hat.Nutzer_kekdngid, 11.05.2018, 20:18 Uhr
Registriert seit: 26.04.2016
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Detail-Informationen zum vorliegenden Titel:
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Gustav Mahler: Sinfonie no. 10 |
|||
Label: Anzahl Medien: Veröffentlichung: |
WERGO 1 05.08.2016 |
EAN: |
4010228512229 |
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WERGO Als 1962 die erste Veröffentlichung des Labels WERGO erschien - Schönbergs "Pierrot lunaire" mit der Domaine musicale unter Pierre Boulez -, war dies ein Wagnis, dessen Ausgang nicht abzusehen war. Werner Goldschmidt, ein Kunsthistoriker, Sammler und Enthusiast im besten Sinne, war es, der - gemeinsam mit dem Musikwissenschaftler Helmut Kirchmayer - den Grundstein zu dem Label legte, das seit inzwischen 50 Jahren zu den führenden Labels mit Musik unserer Zeit zählt. Mehr Info... |
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