
Höller, York - Streichquartette
Anspruchsvoll ansprechend
Label/Verlag: Neos
Detailinformationen zum besprochenen Titel
Das Minguet Quartett begibt sich tief hinein in die Texturen von York Höllers Streichquartetten und erfüllt diese mit lebendigem Ausdruck. Eine Platte mit Suchtpotential, und das will bei zeitgenössischer Musik wirklich etwas heißen.
Es gibt Musiker, die sind unverzichtbar im heutigen Kulturbetrieb, haben sie sich doch die Belebung von Nischenbereichen auf die Fahne geschrieben. Das Minguet Quartett gehört zu diesen Künstlern. Sein Einsatz für die Musik des späten 20. und frühen 21. Jahrhunderts ist exemplarisch zu nennen, ganz abgesehen von seinen musikalisch hochrangigen Interpretationen von Musik anderer Epochen. Wie früher das Arditti Quartet, scheinen auch die Minguets keine Angst vor nichts zu haben; sie stellen sich der Herausforderung und sind erfolgreich.
Auf der vorliegenden CD sind die Werke York Höllers für Streichquartett zusammengefasst, ein überschaubares Korpus von einer Studienkomposition bei Bernd Alois Zimmermann bis zu 'Zwiegestalt' für Streichquartett und Klavier von 2007/8 (das 2. Streichquartett entstand schon 1997). Die 'Drei Fragmente' des Zweiundzwanzigjährigen stehen dem Lehrer durchaus noch nahe, auch wenn Höller in ihnen bereits einen ‚postseriellen 'Stil der Freiheit'‘ realisiert sah. Es sind kurze, anspruchsvolle Sätze mit großem expressiven Potential (das hier auch in aller Fülle genutzt wird), die auch Ensembles, die noch am Anfang ihrer Auseinandersetzung mit zeitgenössischer Musik, als Studienmaterial anempfohlen seien.
Ein Quantensprung hiervon ist das 1. Streichquartett mit dem Titel 'Antiphon', ein 1976 entstandenes und 1984 revidiertes Werk für Streichquartett und elektronisch transformiertes Streichquartett. Die Komposition erlebte ihre Uraufführung im Rahmen der Eröffnungsfeierlichkeiten des Centre Pompidou in Paris. Musikalisch lebt es von der Dichotomie zwischen Klanggestalten der Gegenwart und Elementen der musikalischen Vergangenheit (Gregorianik, frühe Mehrstimmigkeit) und ist so gleichzeitig ein musikhistorischer Exkurs und eine durchaus moderne Komposition. Leider erfahren wir im ansonsten ausgezeichneten Booklet nicht, ob 1984 auch der elektronische Part überarbeitet wurde und in welcher Form dieser heute genutzt wird (der WDR arbeitet bekanntlich intensiv an der digitalen Bewahrung der elektronischen Kompositionen des 20. Jahrhunderts, die aber auch zahlreiche Herausforderungen bietet).
Das 2. Streichquartett erlebte seine Uraufführung 1998 durch das Arditti Quartet; auch hier ist musikalisches Material (oder, wie es Höller nennt, ‚Klang- und Zeitgestalt‘) aus dem Gregorianischen Choral hergeleitet. Die viersätzige Komposition ließe sich vielleicht unter dem Epithet ‚postmodern‘ subsumieren, doch wäre dies vielleicht auch eine unangemessene Verkürzung. Auf jeden Fall haben wir hier ein Werk, das musikalisch ausgesprochen attraktiv, in der kontrapunktischen Faktur teilweise geradezu seduktiv angelegt ist (gerade wenn so genialisch wie hier vom Minguet Quartett vorgetragen). Nicht immer kann man zeitgenössischer Musik Suchtpotential zuschreiben – bei dem vorliegenden Werk, dessen Sog man sich kaum entziehen kann, ist dies aber wohl angebracht.
Höllers jüngste Komposition für Streichquartett ist wie gesagt 'Zwiegestalt' für Klavier und Streichquartett. Die Komposition erlebte ihre Uraufführung 2008 in der Essener Philharmonie – mit dem Minguet Quartett; und es ist unüberhörbar, dass die Minguets die Musik von innen heraus kennen und voller Konzentration und Herz bei der Sache sind. Zu Beginn schien dem Rezensenten die Klavierstimmung nicht ganz optimal (oder die Instrumentenwahl?), doch verfliegt dieser Eindruck schnell, vor allem weil schon bald der Dialog zwischen Klavier und Streichern den Hör-Schwerpunkt verlagert. Die schwierige Balance zwischen den Instrumenten war eine deutliche Herausforderung für das Aufnahmeteam, das in allen anderen Fällen deutlich überzeugender ist als hier. Der Pianist Markus Bellheim ist Höllers Idiom offenbar nicht ganz so vertraut wie die Minguets, auch wenn er einen differenzierten, feinfühligen Beitrag beisteuert. Doch an die kongeniale Expertise des Minguet Quartett reicht er nicht ganz heran.
Eine äußerst verdienstvolle Produktion, und es steht nur zu hoffen, dass die Kompositionen ihre Ausstrahlung nun nicht nur auf den beschränkten Raum der Tonträgerrezeption werden beschränken müssen. Keine leichte Kost, aber Musik, um die es sich lohnt zu ringen.
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Detail-Informationen zum vorliegenden Titel:
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Höller, York: Streichquartette |
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Label: Anzahl Medien: Veröffentlichung: |
Neos 1 17.06.2016 |
Medium:
EAN: |
CD
4260063115189 |
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Höller, York |
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Neos NEOS das neue Label für Zeitgenössische Musik, das seit Mitte Mai 2007 auf dem deutschen, seit Oktober 2007 auch auf dem internationalen Markt präsent ist. Im Zentrum der Neuveröffentlichungen stehen Kompositionen des 20. und 21. Jahrhunderts - die Betonung liegt dabei auf Welt-Ersteinspielungen. Mehr Info... |
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