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Donnerstag, 30. November 2023

Mendelssohn, Felix und Schumann, Robert - Werke für Violine und Orchester

Parfumduft und Turbo


Label/Verlag: Cobra Records
Detailinformationen zum besprochenen Titel


Philippe Graffin widmet sich Mendelssohn und Schumann. Beides kann nicht restlos überzeugen, weil der Geiger bei Mendelssohn zu Sentimentalitäten neigt und Schumanns Finalsatz atemlos durchstürmt.

In bisher über 30 CD-Aufnahmen hat der französische Violinist Philippe Graffin (*1964) sein Können unter Beweis gestellt. Der Schüler von Philippe Hirschhorn (1946-1996) und dem späten Joseph Gingold (1909-1995) war Artist in Residence an der University of New York Stony Brook und gründete das Kammermusik-Festival Consonances. Jetzt hat der Professor am Pariser Conservatoire National de Musique beim niederländischen Cobra Records eine neue Aufnahme mit den Violinkonzerten von Mendelssohn und Schumann vorgelegt. Mit dabei ist auch die seltener zu hörende Phantasie op. 131 von Schumann. An Griffins Seite spielt das Orchestra di Padova e del Veneto unter der Leitung des versierten finnischen Dirigenten Tuomas Rousi.

Ungewöhnlich dabei ist die Wahl seiner Kadenz im ersten Satz von Mendelssohns Violinkonzert e-Moll: Hier spielt Graffin nicht die übliche von Ferdinand David, sondern leider eine zur Selbstdarstellung neigende eigene. Graffins Spiel ist durchweg romantisch, etwas selbstverliebt, manchmal nahezu sentimental – auch durch die Art seines Vibratos – und verliert dadurch an Basis. Zu sehr experimentiert der Franzose mit Farben und Rubati, die aber kaum zielführend sind. Sein Ton ist leider zu Beginn etwas dünn, sein Klang schwankt in der Dynamik, so dass der Hörer eine (störende) permanente Wellenbewegung wahrnimmt. Viel besser gelungen ist der Einstieg beispielsweise bei Viktoria Mullova gemeinsam mit der Academy of St Martin in the Fields unter Sir Neville Marriners Leitung in der 1991er Produktion, die viel intimer daherkommt. Mullova fokussiert dichter und intoniert sauberer. Graffin gelingt das Ende des ersten Abschnitts des Kopfsatzes nur bedingt. Auch Frank-Peter Zimmermann verfügt da, obwohl langsamer im Tempo, über mehr Zugkraft. Muss das Tempo bei diesem 'Allegro molto appassionato' überhaupt immer schneller werden im Laufe der Interpretationsgeschichte dieses Werks? Die Frage wäre einmal zu erörtern, denn der Eindruck drängt sich auf. Im Vergleich zu Mullova und Zimmermann unterliegt Graffin geigerisch, nur der alte Isaac Stern agiert noch schwächer. Aber weder der martialische Klang des Boston Symphony Orchestra noch der symphonische Supertanker Berliner Philharmoniker (mit Anne-Sophie Mutter) mag als Orchesterpartner wirklich befriedigen in diesem Werk. Graffins Aufnahme hat auch geheimnisvolle Züge, aber sein Klang ist etwas instabil.

Auch der zweite Satz 'Andante' trägt interpretatorisch gewissermaßen narzisstische Züge. Das betrifft aber nicht das durchaus ansprechend agierende Orchester, welches souverän begleitet und in allen Belangen professionell zur Sache geht. Frisch ist hier das Tempo. Der Solist versucht den Hörer mit Portamenti und Rubati zu betören, die seine äußerst emotionale Wiedergabe unterstreichen. Das Zwischenspiel gefällt, der Dialog zwischen Solist und Orchester kommt in Gang. Musikalisch und technisch versiert geht der aus Romilly-sur-Seine stammende Geiger hier zu Werke. Feinnervig, geigerisch kultiviert und mit guter Balance zwischen Solopart und Orchester präsentiert sich das Finale 'Allegretto non troppo'. Abschlussnoten sind manchmal etwas unpräzise ausgeführt, es überwiegt hier aber der Eindruck von Spielwitz und guter Laune. Immerhin ist der 52-Jährige in diesem Satz rund 40 Sekunden schneller unterwegs als Anne-Sophie Mutter unter Herbert von Karajan. Auch einer gewissen Dramatik entbehrt das Spiel des Franzen gen Ende nicht: Die Stretta macht Laune. Immerhin spielt er auf einer wundervollen Domenico-Busano-Violine, Venedig 1730.

Selten gespielt ist die Phantasie op. 131 von Robert Schumann. Rund eine Viertelstunde dauert dieses dreiteilige Werk. Zu hören ist ein Live-Mitschnitt aus dem Auditorium Pollini in Padua vom 2. Dezember 2013. Der Solist wirkt hier ganz anders, stimmt nachdenkliche Töne an, fabriziert einen vorsichtigen Klang, geheimnisumwoben und filigran. Schumann komponierte das Werk 1853, kurz bevor er das Violinkonzert schrieb. Joseph Joachim hatte sie bestellt. Es war das Jahr, als im Oktober unerwartet auch der 20-jährige Johannes Brahms in Düsseldorf vorstellig wurde und Kostproben seiner Musik gab. Schumann fühlte sich inspiriert und schrieb das Violinkonzert wie in einem Blitzgewitter der Inspiration nieder, sein letztes symphonisches Werk. Joachim war aber mit dem Ergebnis unzufrieden und nach einmaligem Durchspielen legte er das Werk – für immer – beiseite.

Die Umstände von Schumanns Selbstmordversuch und der Zeit in der Heilanstalt sind tragisch, doch Clara Schumann, Joachim und Brahms endschieden sich nach Schumanns Tod gegen eine Veröffentlichung des Violinkonzerts, hielten es für minderwertig. Bizarre Umstände brachten das Konzert 1933 ans Tageslicht: Die Großnichten Joachims, Adila Fachiri und Jelly d‘Arányi, beides Violinistinnen, suchten nach dem verschollenen Konzert, dessen Autograph Joachims Sohn Johannes 1907 nach dem Tod seines Vaters an die Preußische Staatsbibliothek veräußert hatte. Wilhelm Strecker, der Verleger des Schott-Verlages hatte es wieder ausfindig gemacht. Dann begann der Wettlauf um die Uraufführung am 26. November 1937, den schließlich, da im Dritten Reich sowohl d‘Aranyi als auch Jehudi Menuhin wegen ihrer jüdischen Abstammung ausschieden, Georg Kulenkampff für sich entschied, obwohl es bis 1956 mit einem Aufführungsverbot belegt war. Die Phantasie hatte da eine gelungenere Rezeption: Schumann selbst dirigierte die Premiere beim Düsseldorfer Allgemeinen Musikverein am 27. Oktober 1853.

'In kräftigem, nicht zu schnellem Tempo' lautet die Bezeichnung für den ersten Satz aus Schumanns Violinkonzert. Das Orchester kling wohlig, volltönend. Der Klang ist schön romantisch und gut abgestimmt. Derzeit gibt es um das Konzert einen kleinen Hype, der mit der Aufnahme von Gidon Kremer, dem Chamber Orchestra unter der Leitung von Nikolaus Harnoncourt 1994 begann und sich über Einspielungen von Thomas Zehetmair, Renaud Capuçon, Joshua Bell, Kolja Blacher, Arabella Steinbacher bis hin zu Eric Schumann, Lena Neudauer und Isabelle Faust fortsetzte, um nur einige wichtige Spielerinnen und Spieler zu nennen. Einfühlsam trifft hier das Orchester den Charakter der Musik, wobei es lediglich etwas an Klarheit im Klangbild mangelt, was aber auch an der Aufnahmetechnik liegen kann. Philippe Graffin ist auffällig rasch unterwegs: 13:53 Minuten benötigt er, während Kremer den Satz in 15:31 Minuten spielt. Zeiten sagen zwar nicht alles; klanglich hat die 22 Jahre alte Kremer-Aufnahme aber alle Vorzüge, die man sich wünschen kann, ist rassig und dunkel abtönt.

Im Vergleich zur starken Persönlichkeit Kremers fehlt Graffin allerdings das dramaturgische Konzept, da er alle Themen mit übermäßiger Sinnlichkeit und zu ähnlicher Herangehensweise und ähnlichen Mitteln (zum Beispiel Effekte wie unvibrierte Noten, Verzögerungen, agogische Aktionen) angeht. Unterschiedliche musikalische Charaktere kann man so nicht wirklich erkennen. Andererseits verzaubert seine feinfühlige und sinnliche Spielweise, die allerdings durch geradezu inflationären Gebrauch gewisser Stilmittel in puncto Artikulation, Färbung usw. ermüdet und letztlich sogar etwas langweilt, weil eben die musikalische Architektur nicht deutlich wird. Etwas zügiger als Kremer geht Lena Neudauer mit der Deutschen Radiophilharmonie Saarbrücken zu Werke. Sie hat einen sehr schönen, brillanten Klang, der ebenfalls gefälliger als Graffin ist, weil letzterer gelegentlich zum Nachdrücken tendiert. Schwierig ist es, das Konzert über die ganze Länge gleichbleibend auf höchstem Niveau zu spielen. Hilary Hahn hat einmal gesagt, dass sie sich 150 Prozent konzentrieren müsse dafür. Wie wahr, denn man hört jede Note. Die neue Aufnahme überzeugt deshalb nicht restlos, wobei Graffin natürlich auf einem sehr hohen Niveau spielt, doch fehlt es ihm an Detailgenauigkeit und vor allem an Präzision im Detail.

Der zweite Satz 'Langsam' beginnt mit einem Cellosolo. Darein schmiegt sich die Solovioline. Kompositorisch ist das über jeden Zweifel erhaben gelungen. Auch hier hört man keine völlige Übereinstimmung der Interpreten. Der Geiger lässt sich zu heftigen Impulsen verleiten, die manchmal wie Schockwellen auslaufen. Lena Neudauer, die sich 6:35 Minuten (Graffin 5:14) gönnt, verströmt da mehr Ruhe.

Nikolaus Harnoncourt war überzeugt davon, dass man für dieses Violinkonzert, bei dem man seine Virtuosität kaum zu Schau stellen könne, einen bedeutenden Gestalter benötige, der aber trotzdem über eine virtuose Technik verfügen müsse: ‚Wenn einer nur seine artistischen Fähigkeiten vorführen und billig zu Applaus kommen will, dann muss er andere Sachen spielen‘, so der Altmeister der Alten Musik im Booklet zu seiner Aufnahme. Lange hielt sich der Mythos der ‚Unspielbarkeit‘ in Bezug auf den dritten Satz 'Lebhaft, doch nicht schnell'. Mit Schumanns Metronomangabe Viertel= 63 erschien das Finale so manchem Spieler – und wohl auch Philippe Graffin – viel zu langsam und nicht virtuos genug. So kam es zu merkwürdigen Einfällen, wie dem von Kulenkampff, der sich den Finalsatz von Paul Hindemith bearbeiten ließ, um ihn schneller spielen zu können.

So ist das treu durchgehaltene langsame Tempo bei Kremer/Harnoncourt symptomatisch. Sie brachen 12:22 Minuten, während Graffin ihn in 8:42 durchpeitscht. Schumann verstand den Satz als Polonaise, wie es brieflich belegbar ist. Er hatte ein Tempo im Sinn, wie man es beim Tanzen nahm, daher der Satzhinweis, mit ‚Stolz und Pomp zu spielen‘. Das entspricht natürlich nicht dem landläufig üblichen Bild eines Finalsatzes, der als ‚Rausschmeißer‘ herhalten musste. Das ist bei Schumann eben anders. Es ist sein kompositorisches Vermächtnis. Graffin hält sich nicht daran, spielt den Schlusssatz mit südländischem Temperament schnell und fasst ihn eher leichtfüßig wie ein Werk Henri Wieniawskis auf. Kompositorisch ist es wohl nicht so gemeint. Die perlenden Läufe werden so – selbst bei so hervorragender Technik wie Graffin sie hat – nahezu unspielbar.

Alles in allem ist das keine schlechte Aufnahme, aber sie hat lediglich lokaldokumentratorischen Wert. Das Booklet ist nur auf Englisch und Französisch abgefasst, verfügt aber über einige gute Beiträge.

Interpretation:
Klangqualität:
Repertoirewert: 
Booklet:





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Detail-Informationen zum vorliegenden Titel:



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    Mendelssohn, Felix und Schumann, Robert: Werke für Violine und Orchester

Label:
Anzahl Medien:
Veröffentlichung:
Cobra Records
1
03.06.2016
Medium:
EAN:
BestellNr.:

CD
8713897903560
COBRA 0043


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Mendelssohn Bartholdy, Felix
Schumann, Robert


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Cobra Records

Remarkable projects: COBRA RECORDS is always looking for remarkable projects performed by young talent and/or internationally well known musicians and special ensembles, domestically and abroad. Enthusiasm, ambition, open-minded, sense of quality, cooperation and flexibility are our keywords. Remarkable can be defined as groundbreaking, innovative, but also sublime performance of the "main repertoire". Looking for everyone's highest quality we create all conditions to achieve a special production. This all starts with discussing repertoire, planning, choosing acoustical location. Each musician gets complete artistic freedom and all the support to achieve highest expression.

Audiophile quality: All productions are recorded in native DSD. This recording format has a sample rate which is at least 64 times higher then a CD. The recordings are made in three different styles: Stereo, Surround and Binaural.

Artwork, Video: Much attention for a special look is given to optimal design and video.

Fair Trade: COBRA RECORDS is a fair trade label. Together with musicians we invest in new productions. This is for both parties a healthy mechanism that forces combining efforts for maximum publicity. COBRA RECORDS attaches great importance to a broad collaboration with musicians, composers, concert halls, artist management and media.

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