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Montag, 2. Oktober 2023

Butterworth, George - Suite für Streichquartett

Personalunion


Label/Verlag: BIS Records
Detailinformationen zum besprochenen Titel


George Butterworth war bislang noch keine Portrait-CD gewidmet worden. Dem schafft BIS nun Abhilfe, allerdings ist das Ergebnis nicht vollauf überzeugend.

Obschon sein Œuvre vom Umfang her äußerst überschaubar ist, gab es lange ein paar Werke von George Butterworth (1885–1916), die es nie auf Tonträger geschafft haben. Die Suite für Streichquartett gehörte ebenso dazu wie die unvollendet gebliebene 'Fantasia' für Orchester, die allerdings hundert Jahre nach dem Tod des Komponisten gleich zwei Realisationen erfahren hat. Auf Dutton erschien die Aufführungsfassung von Martin Yates, und BIS legt nun eine Version von Kriss Russman vor. Russman, der sich vor allem auch als Komponist sieht (er war Student von Alan Ridout am Londoner Royal College of Music), war Solohornist des BBC Concert Orchestra, arbeitete für die BBC als Fernsehproduzent und begann mit dem Dirigieren an der Lettischen Nationaloper in Riga. Vor allem im osteuropäischen Raum hat sich Russman als Dirigent profiliert, war aber auch bereits mit dem London Symphony Orchestra und dem Orchestre Colonne zu hören.

Die vorliegende SACD ist die erste Schallplatte überhaupt, die ausschließlich George Butterworths Schaffen mit Orchester gewidmet ist. Neben den vier Originalkompositionen – dem Idyll 'The Banks of Green Willow', der Rhapsodie 'A Shropshire Lad', den 'Two English Idylls' und dem kleinen Orchesterliederzyklus 'Love Blows as the Wind Blows' – braucht es durchaus mehr, um eine Platte ganz zu befüllen. So entstammt mehr als die Hälfte der hier vorliegenden Musik nicht ausschließlich Butterworths Feder. Die beiden oben genannten Instrumentalkompositionen sind ebenso berücksichtigt wie eine neue Orchestrierung der 'Six Songs from A Shropshire Lad' – jener berühmten Gedichtsammlung von A.E. Housman, die damals eine Vielzahl an Komponisten inspirierte.

Die frühesten Kompositionen der SACD sind die zwei Idylle, hervorgegangen aus Butterworths Interesse an musikalischem Volksgut. 1906 begann Butterworth mit dem Sammeln von Volksliedern, die beiden ‚Orchesterphantasien‘ über die Originalmelodien wurden 1910 fertiggestellt. Russman hebt den symphonischen Duktus der Kompositionen hervor und lässt dennoch das Kammermusikalisch-Feine zu seinem Recht kommen. Durch diesen ambitiösen Zugriff betont er gerade im ersten Idyll (nach Melodien aus Sussex) das noch nicht ganz Reife der Arbeit, eine gewisse Unentschiedenheit, ob sich der junge Komponist in Richtung der Sinfonik seiner Zeit (Vaughan Williams, Brian) wenden soll oder ihm der bescheidene Rahmen nicht doch gemäßer wäre. Gerade das zweite Idyll ist den frühen Orchesterwerken Vaughan Williams‘ keineswegs fremd, nicht zuletzt dank des abschließenden Violinsolos.

1911 und 1913 folgten die beiden anderen abgeschlossenen Orchesterkompositionen Butterworths, zunächst die Rhapsodie nach dem gleichnamigen Klavierlied und dann, kurz vor Kriegsbeginn, das Idyll 'The Banks of Green Willow'. Gerade aber bei 'The Banks of Green Willow' gibt es deutlich interpretatorisch dichtere Lesarten (etwa von Norman Del Mar). Musikalisch ist alles am rechten Fleck, das Orchester reagiert mit großem Feingefühl und Eleganz, doch zerfasert die Komposition (wie auch die anderen) an der Umsetzung des Notentextes. Der musikalische Bogen wird nicht so intensiv erkundet wie durch andere Dirigenten, etwa jene, die bei Beecham oder Boult gelernt haben.

Im Sommer 1914, unmittelbar vor Kriegsbeginn begann Butterworth mit der Arbeit an einer 'Fantasia' für Orchester, von dem heute aber nur 92 Takte erhalten sind. Möglicherweise existierte ein weiter ausgearbeiteter Partiturentwurf (ein sogenanntes Particell), der aber heute verschollen ist. Aus der Ferne ist das Werk motivisch mit 'A Shropshire Lad' verwandt – in Russmans Interpretation noch stärker als in jener von Martin Yates. Beide Versionen sind vor allem Schöpfungen der jeweiligen Dirigenten, wobei Yates‘ Fassung weitaus umfänglicher ist als die 'Fantasia' in Russmans Ausarbeitung (was umgekehrt bedeutet, dass Russman weniger spekuliert als Yates). Wie auch anderswo ist auch hier Russmans Dirigat nicht von ganz derselben Tiefe und Durchdringung der Werksubstanz im Vergleich zu dem ‚Konkurrenzprodukt‘; auch scheint das Orchesterspiel hier etwas weniger feinfühlig zu sein als in den anderen Orchesterstücken (zu wenige Proben?). Wie bei Elgars Dritter Sinfonie besitzt das Stück eine aufrüttelnd spekulative Komponente, die ein wenigstens kleines Fenster eröffnet auf das, was hätte sein können. Vielleicht wäre es interessant gewesen, sozusagen als Bonus das originale Fragment Butterworths der Plattenaufnahme beizufügen.

So wie die 'Fantasia' plötzlich zwei Realisationen erfahren hat, gilt gleiches für die Edition der Suite für Streichquartett, die 1910 entstand (für einen akademischen Grad an der Universität Oxford, der sich nie realisierte?) und die in den Jahren 2005ff. fast zeitgleich in Hongkong und München im Druck vorgelegt wurde. Auf die CD-Version der Originalfassung warten wir bis heute. Russman hat hier nun eine Fassung für Streichorchester vorgelegt, die im Grunde Frederick Delius‘ 'Sonata for Strings', William Waltons 'Sonata for Strings' oder Robert Simpsons 'Allegro deciso' zur Seite gestellt werden könnte, wobei die größte Nähe zu Delius besteht (weil nicht der Komponist selbst die Einrichtung vornahm). Ein Vergleich etwa zu Hubert Parrys 'English Suite' des Jahres 1914 macht klar, in welchem Kontext das Werk gehört werden kann (Parry war von 1900 bis 1908 Musikprofessor in Oxford). Russmans Lesart seiner eigenen Einrichtung überzeugt und hebt eben jene Traditionslinien, die mit gedacht werden können, durchaus hervor (ob bewusst oder unbewusst, sei dahingestellt – leider enthält sich Russman im Booklettext entsprechender Äußerungen).

'Love Blows as the Wind Blows' ist ein 1912/4 entstandener kleiner Liederzyklus auf Texte von William Ernest Henley, dessen Tochter James Matthew Barrie zu dem Namen der Wendy in ‚Peter Pan‘ inspirierte. Schon 1911 waren die 'Six Songs from A Shropshire Lad' entstanden, in deren fünftem Butterworth das Schicksal jener allzu zeitig auf dem ‚Felde der Ehre‘ Gefallenen, jener ‚that will die in their glory and never be old‘ nachhaltig musikalisch realisiert hat. Schon Anfang der 1960er-Jahre legte Lance Baker seine Orchestrierung des Zyklus vor (von Stephen Varcoe und Richard Hickox für Chandos eingespielt). Dass Russman auch hier seine eigene Einrichtung bevorzugt, mag auch an Urheberrechtsfragen liegen; auf diese Weise allerdings drängt sich doch stark der Eindruck auf, Russman wolle sich nicht nur als Dirigent, sondern auch als der einzige Musiker positionieren, der Butterworths Musik wirklich verstanden hat (was ihn seiner Liedorchestrierung eindeutig nicht der Fall ist).

Als expressiven Solisten hat er den Bariton James Rutherford (den diesjährigen Bayreuther Hans Sachs) gewählt, dessen Stimme stärker noch als vor wenigen Jahren mittlerweile ein extremes Vibrato entwickelt hat, mit dem er klare Melodielinien nur in schnellem Tempo gestalten kann (und was ist mit den Tonhöhen in 'Think no more, lad'?). Sein Beitrag disqualifiziert ihn für das vorliegende Projekt – nur ist der Orchesterpart nicht bedeutend genug, um den Sänger sozusagen mitzuziehen. 'Love Blows as the Wind Blows' misslingt stärker als die 'Six Songs from A Shropshire Lad' – nicht von der emotionalen Dichte her, wohl aber von den rein vokalen Fähigkeiten. So bleibt schlussendlich der Eindruck eines engagierten Plädoyers für den Jubilar, das aber leider auf verschiedenen Ebenen nicht ganz überzeugt. Am überzeugendsten sind die SACD-Aufnahmetechnik und das Booklet. Das reicht nicht.

Interpretation:
Klangqualität:
Repertoirewert: 
Booklet:





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Detail-Informationen zum vorliegenden Titel:



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    Butterworth, George: Suite für Streichquartett

Label:
Anzahl Medien:
Veröffentlichung:
BIS Records
1
26.04.2016
Medium:
EAN:

SACD
7318599921952


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Butterworth, George


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BIS Records

Most record labels begin with a need to fill a niche. When Robert von Bahr founded BIS in 1973, he seems to have found any number of musical niches to fill. The first year's releases included music from the renaissance, Telemann on period instruments, Birgit Nilsson singing Sibelius and works by 29 living composers - Ligeti and Britten as well as Rautavaara and Sallinen - next to Purcell, Mussorgsky and Richard Strauss. A musical chameleon was born, a label that meant different things to different - and usually passionate - devotees.


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