> > > Szymanowski, Karol und Lutoslawski, Witold: Sinfonie Nr. 2 / Livre Musique Funebre
Freitag, 2. Juni 2023

Szymanowski, Karol und Lutoslawski, Witold - Sinfonie Nr. 2 / Livre Musique Funebre

Extravagante Avantgarde


Label/Verlag: ACCENTUS Music
Detailinformationen zum besprochenen Titel


Diese Einspielung mit Werken von Szymanowski und Lutoslawski ist in der orchestralen Ausführung schlichtweg brillant.

Wer aufregende, spätromantische Klänge voller Leidenschaftlichkeit liebt und auch den Blick schweifen lassen möchte über die musikhistorische Entwicklung nach Ende des Zweiten Weltkriegs hinaus, ist gut beraten, wenn er diese bei Accentus erschienene Neueinspielung mit der Symphonie Nr. 2 B-Dur op. 19 Szymanowski und Lutosławskis 'Livre pour Orchestre' (1968) und 'Musique funèbre à la mémoire de Béla Bartók' (1958) erwirbt. Die Platte gehört zu einer Trilogie von aufeinander abgestimmten Veröffentlichungen.

Ganz nebenbei erhält der Käufer dieser optisch in trendigem Papp-Outfit gehaltenen Ausgabe Gelegenheit, sich einen Eindruck vom sehr guten Standard des Polnischen National Radio Symphony Orchesters (Kattowice) – kurz NOSPR – zu verschaffen, denn unsere östlichen Nachbarn machen unter der Leitung ihres künstlerischen Direktors und Chefdirigenten Alexander Liebreich (seit 2012) eine überragende Figur. In seinem im überzeugend gestalteten Booklet (Englisch, Polnisch, Deutschn Französisch) mit Martin Hoffmeister durchgeführten Interview stellt Liebreich klar: ‚Da es in Polen nur ein so großes Rundfunkorchester gibt, bieten sich durch die große Zahl der Planstellen immense künstlerische Möglichkeiten‘. Dem ist nichts hinzuzufügen. Künstlerisch wird hier nämlich einiges geboten: große Symphonik und selten zu hörende Literatur in wunderbarer Qualität.

In der vorliegenden Einspielung nutzt Liebreich die Möglichkeiten seines Klangkörpers voll aus und unterstreicht die großartige kompositorische Leistung der beiden kosmopolitisch geprägten Symphoniker Karol Szymanowski (1882-1937) und Witold Lutosławski (1913-1994), die in Deutschland immer noch ein Nischendasein fristen, sich aber in jüngster Zeit wachsender Beliebtheit erfreuen und zuletzt häufiger auf den Programmzetteln heimischer Orchester zu finden sind. Die Kattowitzer Musiker – allen voran der exzellente Konzertmeister Piotr Tarcholik – stehen für hochkarätige Produktionen der vergangenen Jahrzehnte, aber derzeit sucht das Orchester nach einem neuen Standing im europäischen Konzertbetrieb und will sich international besser positionieren. Polen betritt da durchaus merklich einen anderen Weg als andere EU-Staaten, setzt mehr auf einheimische, polnische Kräfte und will sich spürbar einem eher in Deutschland oder Frankreich geprägten Internationalismus auf den Musikerstühlen entziehen, um so eigenen nationalen Charakter zu entfalten. So fällt auf, dass so gut wie gar keine nicht-polnischen Namen in der abgedruckten Orchestermitgliedsliste erscheinen. Andererseits ist festzuhalten, dass genügend hochkarätige Musiker in Polen ausgebildet werden, insbesondere auf der Violine. Dieses Instrument hat nicht erst seit Henryk Wieniawski eine lebendige Tradition, die mit dem Wieniwski-Violinwettbewerb in Posen (der dieses Jahr stattfand) weiterlebt.

Karol Szymanowski verwendet die Violine in seiner hier eingespielten und zu Zeiten der Uraufführung preisdekorierten Zweiten Symphonie in B-Dur op. 19 (1909/1910) an prominenter Position. Der ganze erste Satz 'Allegro moderato. Grazioso' und weite Strecken des zweiten (und letzten) Satzes 'Tema.Variazioni. Fuga' mit einer stolzen Dauer von fast 20 Minuten steht im Zeichen der Klangfarbe der Violine. Wunderlich ist die Form dieser Sinfonie allemal, aber da steht Szymanowski seinem 22 Jahre älteren böhmischen Zeitgenossen Gustav Mahler in nichts nach. Es ‚riecht‘ auch musikalisch nach ihm und auch nach Richard Strauss, der Szymanowski ebenfalls ein Vorbild war. Die Sinfonie erklang in der Saison 1911/12 in Berlin, Leipzig und Wien, womit er sich 30-jährig dem internationalen Publikum vorstellte.

Karol Maciej Szymanowski wurde am 6. Oktober 1882 in Tymoszówka, was heute in der Ukraine liegt, geboren. Er ist der bedeutendste Vertreter der Komponistengruppe Junges Polen um 1900. Sein Werk umfasst spätimpressionistische Klavierwerke, Violin- und Klavierkonzerte, Kammermusik, vier Sinfonien, Lieder, Opern, Ballette und das Chorwerk 'Litania'. In Polen wurde er leider missverstanden, während seine Kompositionen im Ausland mehr und mehr zur Geltung kamen. 1908 übersiedelte er nach Italien, lebte von 1910 bis 1914 in Wien, wo er durch den Impressionismus und Strawinskys frühe Ballette schöpferisch beeinflusst wurde. 1919 zurück in Polen, wechselte er seinen Stil erneut, nahm nun Anregungen aus der polnischen Volksmusik auf und eiferte kompositionstechnisch Béla Bartók, seinem großen Vorbild, nach. Als zeitweiliger Direktor der Warschauer Musikhochschule hatte er nicht so viel Fortune und demissionierte bald von diesem Posten, was ihm gen Lebensende finanzielle Schwierigkeiten bescherte. Szymanowski starb an Tuberkulose am 29. März 1937 nur 56-jährig – nach vielen Kuraufenthalten u.a. in Zakopane und Davos – in einem Sanatorium in Lausanne.

Symphonisch beurteilt entfacht das NOSPR im Szymanowski einen Klang von betörender Eleganz und hohem Nuancenreichtum. Gerade im nicht so leicht zu spielenden zweiten Satz schlagen sich Holzbläser und Streicher über die Maßen gut, so dass ein frischer Wind weht und der Hörer sich entspannt zurücklehnen und die Klänge genießen kann. Auch aufnahmetechnisch erleben wir hier erstklassige Arbeit.

Das modernste Werk haben die Macher in die Mitte der Platte gesetzt: Das 'Livre pour Orchestere' von Witold Lutosławski aus dem Jahr 1968 zeigt eine völlig andere, exaltierte Klangsprache. Überraschend wirken da die Klänge des Klaviers am Ende des '1er Chapitre', in dem ansonsten Streicher-Glissandi und Cluster dominieren. Aber vielleicht hat Lutoslawski sich diese Technik auch nur von seinem jüngeren österreichischen Kollegen Friederich Cerha (*1926) abgeschaut. Dessen Komposition 'Spiegel II' für 55 Streicher wurde schon 1964 veröffentlicht und weist einige Ähnlichkeiten in puncto Klangfarbe auf. Interessant ist die sechsteilige formale Gliederung, die sich in Kapitel (sogenannte 'Chapitre') und Zwischenspiele ('Intermède') unterteilt. Das abschließende '3me Intermède, Chapitre Final' wirkt wie ein grandioses Klanggemälde, dabei ist es bedrohlich und kraftvoll zugleich. Ein flirrendes Marimbaphonsolo – unterstützt vom Klavier - markiert dabei ungefähr die Mitte des Satzes. Akkordschläge, Cluster, wildes Getümmel, Chaos allerorten ist da zu vernehmen, quasi ein in Töne gesetzter Spiegel des beginnenden 21. Jahrhunderts, der sich gegen Minute 10 voranschreitend immer mehr aufzulösen scheint, bis die letzten Atemzüge vollzogen sind.

Nicht nur Karol Szymanowski eiferte Bartók nach, auch Witold Lutosławski beschäftigte sich intensiv mit ihm. Bereits 1958 schrieb er seine 'Musique funèbre à la mémoire de Béla Bartók'. Das musikalische Idiom der Werke dieser Dekade ist anders als in 'Livre'. Die Textur des Werks ist ähnlich wie beim 'Livre', allerdings sind die Mittel nicht dieselben. Eine gewisse Tonalität ist im 'Prolog' noch auszumachen. Die Trauer drückt sich unmissverständlich durch das Tritonus-Intervall aus. Der zweite Satz, 'Metamorfozy', beginnt geheimnisvoll und leise mit fünf unisono Intonierten Pizzicato-Klängen der Kontrabässe. Nach und nach setzten die höheren Streicher ein, immer wieder wird das schockierende Tremolo-Motiv gespielt. Die NOSPR-Musiker spielen sehr diszipliniert und rhythmisch äußerst exakt, bei schwierigen Noten. Klanglich besonders aufregend ist das nur 38 Sekunden dauernde 'Apogeum' mit seinen Sekundreibungen. Es mündet attacca in den 'Epilog', der wieder vom Intervall des Tritonus beherrscht wird.

Man darf gespannt sein auf die dritte Platte mit diesem Orchester. Vielleicht fährt der Musikbegeisterte auch einmal nach Kattowiz und hört sich das NOSPR live im dortigen neuen, 2014 eröffneten und 1800 Plätze bietenden Konzerthaus an. Architektonisch ist es der letzte Schrei und kostete nur 70 Millionen Euro. Ganz schön günstig im Vergleich zu den 789 Millionen für die neue Elbphilharmonie.

Interpretation:
Klangqualität:
Repertoirewert: 
Booklet:





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Detail-Informationen zum vorliegenden Titel:



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    Szymanowski, Karol und Lutoslawski, Witold: Sinfonie Nr. 2 / Livre Musique Funebre

Label:
Anzahl Medien:
Veröffentlichung:
ACCENTUS Music
1
15.01.2016
Medium:
EAN:

CD
4260234831047


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Lutoslawski, Witold
Szymanowski, Karol


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ACCENTUS Music

ACCENTUS Music wurde 2010 als Produktionsfirma mit einem sehr erfahrenen Team aus Produzenten, Regisseuren, Kameraleuten, Tonmeistern und Cuttern und als gleichnamiges DVD Label auf dem Klassikmarkt gegründet. Die Firma mit Sitz in der Musikstadt Leipzig, unweit der Thomaskirche, produziert weltweit erstklassige Konzertereignisse, Opern sowie Künstlerportraits und Dokumentarfilme. Auf den DVD- und Blu-ray Veröffentlichungen finden sich herausragende Künstler wie Claudio Abbado, Daniel Barenboim, Evgeny Kissin, Martha Argerich, Riccardo Chailly, Pierre Boulez, Joshua Bell, Lucerne Festival Orchestra, New York Philharmonic und das Simón Bolívar Jugendorchester. ACCENTUS Music erfüllt sowohl künstlerisch wie auch technisch höchste Ansprüche von Klassik-Liebhabern rund um den Globus.


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