
Dvorak, Antonin - Stabat Mater
Entrückte Klage
Label/Verlag: BR-Klassik
Detailinformationen zum besprochenen Titel
Mariss Jansons Einspielung von Dvořáks 'Stabat mater' gestaltet sich als Hörerlebnis der Sonderklasse.
Wer zum ersten Mal dem Beginn des 'Stabat mater' von Antonin Dvořák lauscht, dem mögen diese einleitenden Takte erscheinen wie einer der merkwürdigsten und zugleich eindrücklichsten Werkanfänge überhaupt. Ein einziges fis erfüllt den Raum, tastet die verschiedenen Oktavlagen ab, gibt sich je nach Kombination der Orchesterinstrumente mal in heller, mal in matter Schattierung. Der Zuhörer ist noch nicht sicher, was da überhaupt geschieht: Hat das Stück schon begonnen? Suchen die Musiker noch nach dem Gesamtklang? Ganz allmählich erst beginnt das Ohr die Regelhaftigkeit dieses in sich modulierenden fis-Klanges wahrzunehmen, beginnt den Prozess der Transformation vom einzelnen Ton, vom Vor-Artifiziellen, Undefinierten zur kalkulierten, strukturierten Kunstmusik nachzuvollziehen: Aus der ungeformten Klangfläche entwickelt sich jene melodische Linie, der später bei Hinzutreten des Chores der zentrale Textteil 'Stabat mater dolorosa' unterlegt werden soll: Die Musik hat erst jetzt konkrete Gestalt angenommen.
In der unlängst beim Label BR-Klassik erschienenen Einspielung des Chores und des Symphonieorchesters des Bayerischen Rundfunks unter der Leitung des Dirigenten Mariss Jansons (in Kooperation mit den Solisten Erin Wall, Mihoko Fujimura, Christian Elsner und Liang Li) wird diese Verwandlung vom Formlosen zum Gestalthaften zum Ereignis. Es bleibt jedoch nicht bei einem initialen Schlüsselerlebnis: Jansons' Interpretation präsentiert das monumentale geistliche Werk in einer Weise, die zum Zuhören regelrecht verpflichtet.
Schon die lange erste Nummer wird trotz ihrer enormen zeitlichen Ausdehnung als geschlossene musikalische Einheit dargeboten. Während der ausgedehnten Orchestereinleitung halten sich weiche, sanfte Tongebung und großartige Steigerungen, die machtvoll, aber nie aggressiv wirken, die Waage. Der erste Choreinsatz in den Männerstimmen scheint ebenso allmählich aus den Klangmassen aufzusteigen wie zu Beginn die Melodie aus dem Einzelton; dem ganzen Chor ist zu jeder Zeit eine Mischung aus präziser Formung und dennoch klanglicher Üppigkeit eigen, die die Atmosphäre dieses von Schmerz und Wunden erzählenden Eingangsstücks ins Herz trifft. Gerade in Passagen, in denen Chor und Orchester miteinander in Dialog treten, wird dank der absolut homogenen Klanglichkeit des Chores deutlich, dass die Stimmen auch instrumental eingesetzt werden können, dass die Sänger sich solcherart je nach den Erfordernissen des Satzes mal vom Orchester absetzen, mal bruchlos in diesem aufgehen können. Jansons gelingt es, den Charakter des Vorgeformten, Vor-Artifiziellen in der ganzen ersten Nummer latent zu erhalten: Die Musik scheint zeitweise entrückt, wie aus höheren Sphären herabsteigend und sich hienieden erst bildend. Der unvorhergesehene Einsatz des Tenor-Solisten Christian Elsner durchfährt jäh das Klagelied von Chor und Orchester, ohne dabei an Wärme und Weichheit der Stimme einzubüßen. Die nachfolgende Quartett-Passage schließlich besticht durch reflektierte Ausgewogenheit zwischen den vier Solisten und freie, aber plausibel geformte Phrasen.
Auch im zweiten Satz des 'Stabat mater', dem als Solisten-Quartett konzipierten 'Quis est homo', fällt einerseits die Anpassungsfähigkeit der Sänger an den Gesamtklang, die Wandelbarkeit der Stimmen, andererseits die trotz allem immer gewahrte individuelle Prägung einer jeden Stimme auf. In der Arie 'Fac, ut ardeat cor meum' beeindruckt der Bassist Liang Li durch den Wechsel zwischen dramatisch deklamierenden Passagen und lyrisch bewegten Kantilenen. Auf die warme und weiche Tongebung des Tenors Christian Elsner sei wiederholt hingewiesen, und die Arie 'Fac me vere tecum flere' lässt dank dieses besonderen Timbres erst den verhaltenen Trost des "Lass mit dir mich herzlich weinen" aufleuchten. Einen reizvollen Kontrast zur Tenorstimme bildet im Duett 'Fac, ut portem Christi mortem' die helle und leichte Stimme der Sopranistin Erin Wall, die gleichwohl das ihrige beiträgt zur ekstatisch-drängenden Steigerung gegen Ende des Stücks. Dramatisch akzentuierend präsentiert sich die Altistin Mihoko Fujimura in der Arie 'Inflammatus et accensus'. Auch hier frappiert die Variabilität der Stimme, die zu energischem Zugriff ebenso fähig ist wie zu betörender Lyrik.
In den reinen Chornummern hält Jansons durchweg die Balance zwischen freier agogischer Gestaltung, die die schwerblütige Musik flexibel und beweglich hält, und fester, plastischer Struktur. Sowohl Chor als auch Orchester bestechen zu jeder Zeit durch präzise Artikulation und überlegte Phrasierung. Wo im Chor der Text immer verständlich und der Gesamtklang einheitlich ist, ohne dass dadurch Kontraste zwischen den Stimmen preisgegeben würden, wird im Orchester jede Linie klar geformt und in ein hierarchisches Verhältnis zum Rest des Satzes gebracht. Jansons verbindet Transparenz und Plastizität mit Klangsinnlichkeit in einer Weise, die trotz aller musikalischen Einfühlung noch Distanz zur tönenden Klage schafft. Die Chornummer 'Tui nati vulnerati' nimmt Jansons rasch, ohne über entscheidende harmonische Ereignisse hinwegzueilen, solcherart einen unaufhörlichen Fluss produzierend, der das dichte Geschehen auf einer höheren Ebene zusammenfasst. Zum besonderen interpretatorischen Höhepunkt wird das 'Virgo virginum praeclara', in dem die A-Cappella-Passagen des Chores wie von anderem Planeten herabzusteigen scheinen. Dramatische Ekstase beherrscht das 'Amen' der Schlussnummer, in der die Interaktion zwischen Solisten, Chor und Orchester die Musik bis zum Gipfel des vom Ohr noch Unterscheidbaren treibt – um schließlich ausklingend im Nichts zu verebben.
Jansons' Einspielung des 'Stabat mater' lässt auf keiner Ebene Wünsche offen. Die durch und durch hochkarätige Besetzung hält in allen Punkten, was sie verspricht. Wärmstens sei die Aufnahme jedem ans Herz gelegt, der auf der Suche nach einer repräsentativen Interpretation von Dvořáks eindrücklicher Komposition ist.
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Detail-Informationen zum vorliegenden Titel:
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Dvorak, Antonin: Stabat Mater |
|||
Label: Anzahl Medien: Veröffentlichung: Spielzeit: Aufnahmejahr: |
BR-Klassik 1 08.01.2016 077:55 2015 |
Medium:
EAN: BestellNr.: |
CD
4035719001426 900142 |
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Dvorák, Antonín |
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"Dvořáks eindringliches Stabat mater für Solostimmen, Chor und Orchester ist nicht nur das bekannteste kirchenmusikalische Werk des böhmischen Komponisten es ist auch eine der eindrucksvollsten Vertonungen der mittelalterlichen Dichtung überhaupt, in der Maria, die Mutter Jesu, dem Schmerz um ihren gekreuzigten Sohn plastisch Ausdruck verleiht. Ein Grund dafür mögen die schweren Schicksalsschläge gewesen sein, die die Entstehung des Werks begleiteten: 1876, wenige Monate nachdem seine neugeborene Tochter Josefa plötzlich verstorben war, hatte Dvořák mit den Entwürfen begonnen. Als dann im August 1877 innerhalb weniger Tage seine Tochter Ruena im Säuglingsalter an einer Vergiftung und sein dreijähriger Sohn Otakar an den Pocken starben und ihre Eltern kinderlos zurückließen, nahm er die Komposition wieder auf; er instrumentierte die Partitur und vollendete sie am 13. November 1877. Als das Stabat mater am 23. Dezember 1880 in Prag erstmals aufgeführt wurde, erlebte es einen überwältigenden Erfolg, der wesentlich zur dauerhaften Festigung der Beliebtheit von Dvořáks Musik beitrug. Bereits die bloßen Dimensionen der umfangreichen Komposition beeindrucken; die durchdachte Konzeption, eine symphonische Ausarbeitung und der durchgehende Ausdruck tief empfundener Innerlichkeit verleihen dieser Musik eine besondere Würde. Doch selbst das eindrucksvollste Musikstück braucht eine kongeniale Interpretation, um zum Leben erweckt und zu einem wirklichen Erlebnis zu werden. Am 26. März 2015 ist genau dies geschehen: bei dem Konzert im Herkulessaal der Münchner Residenz, das nun im live-Mitschnitt bei BR Klassik vorgelegt wird, waren nicht nur die vier renommierten Solisten bestens disponiert. Der Chor des Bayerischen Rundfunks stellte einmal mehr jenen glasklaren Klang und die ungeheure Plastizität unter Beweis, für die er immer wieder in höchsten Tönen gelobt wird. Und das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks musizierte Dvořáks ergreifende Musik unter der Gesamtleitung von Mariss Jansons authentisch und ganz im Sinne des Komponisten: sensibel empfunden und doch mit aller mitschwingenden Klangpracht. Der live-Mitschnitt von Dvořáks Stabat mater wird von BR Klassik auf einer bestens ausgestatteten CD neu veröffentlicht. Erin Wall, Sopran Mihoko Fujimara, Mezzo-Sopran Christian Elsner, Tenor Lian Li, Bass Chor und Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks Leitung: Mariss Jansons " |
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BR-Klassik BR-KLASSIK, das Label des Bayerischen Rundfunks (BR), veröffentlicht herausragende Live-Konzerte des Symphonieorchesters des Bayerischen Rundfunks (BRSO), des Chors des Bayerischen Rundfunks, des Münchner Rundfunkorchesters sowie der Konzertreihe musica viva. Dabei ist es ein wesentliches Ziel des Senders, über seine Radio- und TV-Programme hinaus auch digital sowie via CD und DVD allen Musikfreunden weltweit Zugang zu besonderen Aufnahmen zu bieten und auf diese Weise auch jenes Publikum zu erreichen, welches keine Möglichkeit hat, die Konzerte der internationalen Tourneen selbst vor Ort live zu erleben. Neben den jeweiligen Chefdirigenten wie beispielsweise Mariss Jansons oder Sir Simon Rattle finden sich großartige Künstlerpersönlichkeiten wie Daniel Barenboim, Herbert Blomstedt, Bernard Haitink und viele andere mehr. Die Reihe BR-KLASSIK WISSEN liefert unterhaltsame und kurzweilige Hörbiografien von Jörg Handstein mit vielen Hintergrundinformationen und Musikbeispielen auf jeweils 4 CDs, erzählt von Udo Wachtveitl sowie spannende Werkeinführungen in bedeutende Kompositionen der Musikgeschichte. Durch die Reihe BR-KLASSIK ARCHIVE werden historische Aufnahmen des Symphonieorchesters des Bayerischen Rundfunks wieder verfügbar. Beispielsweise die legendäre Aufführung des Verdi-Requiems unter der Leitung Ricardo Mutis mit Jessye Norman, Agnes Baltsa, José Carreras und Jewgenij Nesterenko und dem Chor des BR im Jahr 1981 oder etwa denkwürdige Konzertabende mit der Pianistin Martha Argerich: 1973 unter Leitung von Eugen Jochum mit Mozarts Klavierkonzert KV 456 sowie zehn Jahre später mit Beethovens Klavierkonzert Nr.1 unter Seiji Ozawa. Mittlerweile umfasst der gesamte Katalog über 200 Aufnahmen und hat bereits mehr als 50 renommierte und internationale Auszeichnungen erhalten, darunter den Preis der Deutschen Schallplattenkritik, den Diapason d’or, den BBC Music Magazine Award und den ICMA. BR-KLASSIK wird weltweit durch NAXOS vertrieben. Selbstverständlich gehören hierzu auch digitale Portale wie Spotify, Apple, amazon u.v.a.. Die Naxos Music Library präsentiert zudem für Universitäten und öffentliche Bibliotheken via Internet einen ständig wachsenden Katalog mit tausenden von Titeln weltweit führender Labels. Studenten, Lehrpersonal und andere Benutzer können sich jederzeit einloggen und in der Bibliothek, im Hörsaal, im Studentenwohnheim, im Büro oder zu Hause das komplette Repertoire abrufen - auch die Aufnahmen von BR-KLASSIK. Mehr Info... |
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