> > > Scherben: Werke von Harvey, Poppe, Saariaho, Nunes
Freitag, 9. Juni 2023

Scherben - Werke von Harvey, Poppe, Saariaho, Nunes

Musikalische Wandlungsfähigkeit


Label/Verlag: WERGO
Detailinformationen zum besprochenen Titel


Mit einer weiteren Veröffentlichung aus der 'edition musikfabrik' stellt das Ensemble Musikfabrik anhand von vier sehr unterschiedlichen Kompositionen seine musikalische Wandlungsfähigkeit unter Beweis.

Mit den in Neue-Musik-Kreisen so beliebten, griffigen Themenstellungen hat es eine seltsame Bewandtnis, denn die namengebenden Begriffe entpuppen sich häufig als beliebig. Oder anders gesagt: An einem Abend spielt ein Ensemble ein Konzert unter dem Titel ‚Raum‘, zwei Tage später spielt es dasselbe Programm in einer anderen Stadt unter dem Titel ‚Zeit‘. Ähnlich verhält es sich mit der Betitelung dieser Produktion des Ensembles Musikfabrik, neunter Teil der bei Wergo erscheinenden ‚edition musikfarbrik‘: Überschrieben mit dem Wort ‚Scherben‘, nimmt die Produktion Bezug auf das gleichnamige, an zweiter Stelle stehende Ensemblestück von Enno Poppe (2000/2008). Man hätte die CD aber genauso gut mit ‚Licht‘ oder ‚Brechungen‘ überschreiben können, lassen sich doch Poppes Werk und die übrigen Stücke – Jonathan Harveys Ensemblekomposition 'Sringāra Chaconne' (2008), Kaija Saariahos 'Notes on Light' für Violoncello und Kammerensemble (2006/2010) sowie Emmanuel Nunes’ 'Chessed I' für Ensemble in vier Gruppen (1979/2005) – aufgrund ihres musikalischen Umgangs mit (spektralen) Klangzerlegungen viel eher dieser Metapher zuordnen. Dieser Umstand unterstreicht die Beliebigkeit von Betitelungen, vor der sich auch Patrick Hahn in seinem Einführungstext nicht verstecken kann, wenn er mit viel Eloquenz die einzelnen Werke der Thematik zuzuordnen versucht.

Auf andere Weise setzt sich dieses Problem im Design der Produktion fort: Wie schon die Vorgänger-CD ‚Graffiti‘ wartet ‚Scherben‘ mit einem gegenüber den früheren Teilen der ‚edition musikfabrik‘ veränderten Erscheinungsbild auf. Die Scheibe befindet sich nicht in einem Jewell Case, sondern wird, in eine aufklappbare Papphülle gebettet, samt ihrer Beilage in einen durchsichtigen Plastikschuber aufbewahrt. Die Beilage wiederum ist kein gewöhnliches Booklet, sondern ein mehrfach gefaltetes Poster, das auf der Innenseite den Einführungstext in deutscher und englischer Sprache enthält, während die Vorderseite erneut eine Arbeit von Gerhard Richter – diesmal die Bleistiftzeichnung ‚4.10.1985 (1)‘ – abbildet. Ließ sich beim Thema ‚Graffiti‘ immerhin noch ein Bezug zwischen dieser visuellen Album-Konzeption und der inhaltlichen Ausrichtung der Produktion herstellen, bleibt das aktuelle Beispiel trotz ihrer ästhetisch ansprechenden Gestaltung einen solchen Zusammenhang letztendlich schuldig.

Das alles sagt jedoch nichts über die Qualität der Veröffentlichung: Tatsächlich ist es der Musikfabrik gelungen, vier aufgrund ihres kompositorischen Ansatzes und musikalischen Ausdrucks sehr unterschiedliche Kompositionen – allesamt Mitschnitte aus Live-Konzerten und mit Ausnahme von Poppes Komposition Ersteinspielungen – zu versammeln und damit einen Einblick in seine musikalische Wandlungsfähigkeit zu geben. In Harveys 'Sringāra Chaconne' steht das Austesten harmonischer und farblicher Differenzen im Mittelpunkt: Unter Leitung von Peter Rundel füllen die Musiker hier zunächst sehr behutsam, später auch in zunehmend kraftvoller Diktion die vom Komponisten durchmessenen harmonischen Räume aus und zeichnen dabei einen stimmigen Spannungsbogen. Poppes 'Scherben' wiederum, unter Leitung von Stefan Asbury aufgenommen, entpuppt sich als abwechslungsreiches Gebilde, das einerseits voller wirbelnder Ereignisse steckt, andererseits aber auch von ruhigen Klanglinien bestimmt ist. Gerade an diesen Ruhepunkten wirkt die Aufnahme konzentriert und feinfühlig, was die Virtuosität, mit welcher sich die Ensemblemitglieder den oft filigranen, oft aber auch voller Energie steckenden Verdichtungsphasen nähert, noch unterstreicht.

In Saariahos fünfteiliger Komposition 'Notes on Light' lagern die Ensemblemusiker unter Leitung von Emilio Pomàrico ihre Klänge an Dirk Wiethegers Cello-Kantilenen an, vertiefen die melodische Linie auf unterschiedliche Weise, indem sie harmonische Abschattierungen entfalten und den Klang des Soloinstruments immer wieder ins Ensemble hineinwachsen lassen. Allerdings hat der Cellopart bei der Abmischung eine Spur zu viel Präsenz erhalten, sodass die Wirkung der Komposition – das ständige Spiel mit Vorder- und Hintergrund – manchmal ein wenig verpufft. Nunes’ 'Chessed I' schließlich, eingespielt unter Sian Edwards, erweist sich als nervöses Geflecht einander überlagernder Instrumentalklänge, dessen Verteilung auf vier Ensemblegruppen trotz der nuancenreichen und bisweilen auch sehr zarten Darstellung von Einzelparts im Klangbild zu undifferenziert bleibt, weil die dramaturgische Wirkung der kompositorischen Konzeption in der Stereoabmischung nur unzureichend wahrgenommen werden kann.

Interpretation:
Klangqualität:
Repertoirewert: 
Booklet:





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Detail-Informationen zum vorliegenden Titel:



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    Scherben: Werke von Harvey, Poppe, Saariaho, Nunes

Label:
Anzahl Medien:
Veröffentlichung:
Spielzeit:
WERGO
1
27.11.2015
76:16
Medium:
EAN:
BestellNr.:

CD
4010228686227
WER 68622


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Harvey, Jonathan
Poppe, Enno
Saariaho, Kaija


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WERGO

Als 1962 die erste Veröffentlichung des Labels WERGO erschien - Schönbergs "Pierrot lunaire" mit der Domaine musicale unter Pierre Boulez -, war dies ein Wagnis, dessen Ausgang nicht abzusehen war. Werner Goldschmidt, ein Kunsthistoriker, Sammler und Enthusiast im besten Sinne, war es, der - gemeinsam mit dem Musikwissenschaftler Helmut Kirchmayer - den Grundstein zu dem Label legte, das seit inzwischen 50 Jahren zu den führenden Labels mit Musik unserer Zeit zählt.
Noch immer hält WERGO am Anspruch, unter den Goldschmidt seine "studioreihe neue musik" gestellt hatte, fest: die hörende wie lesende Beschäftigung mit der neuen Musik anzuregen und in Produktionen herausragender InterpretInnen und von FachautorInnen verfassten ausführlichen Werkkommentaren zu dokumentieren.
Auf mehr als 30 Schallplatten kam die Reihe mit roter und schwarzer Schrift auf weißem Cover, dann wurde die Unternehmung zu groß für einen Einzelnen. Seit 1967 engagierte sich der Musikverlag Schott zunehmend für das Label, 1970 schließlich nahm Schott das Label ganz in seine Obhut. Seither wurden mehr als 600 Produktionen veröffentlicht, die ungezählte Preise erhalten haben und ein bedeutendes Archiv der Musik des 20. und 21. Jahrhunderts darstellen.
Kaum einer der arrivierten zeitgenössischen Komponisten fehlt im Katalog. Ergänzt wird dieser Katalog seit 1986 durch die inzwischen auf über 80 Porträt-CDs angewachsene "Edition Zeitgenössische Musik" des Deutschen Musikrats, die mit Werken junger deutscher KomponistInnen bekannt macht. Neben dieser Zusammenarbeit bestehen Kooperationen mit dem Zentrum für Kunst und Medientechnologie Karlsruhe ("Edition ZKM") und dem Studio für Akustische Kunst des Westdeutschen Rundfunks ("Ars Acustica"). Im Bereich "Weltmusik" kooperiert WERGO eng mit dem Berliner Haus der Kulturen der Welt und der Abteilung Musik des Ethnologischen Museums Berlin. Die "Jewish Music Series" stellt die vielfältigen Musiktraditionen der jüdischen Bevölkerungen der Kontinente in ihrer ganzen Bandbreite vor. Zahlreiche Veröffentlichungen mit Computermusik sind in der Reihe "Digital Music Digital" erschienen. Neue Editionen wie die legendäre "Contemporary Sound Series" des Komponisten Earle Brown oder die des Ensembles musikFabrik kamen in den vergangenen Jahren hinzu.
Die Diversifizierung, die das Programm von WERGO seit seiner Gründung erfahren hat, ist der Weitung des zeitgenössischen musikalischen Bewusstseins ebenso geschuldet wie sie zu dieser stets beitrug - eine Aufgabe, der sich WERGO auch in Zukunft verpflichtet fühlt.


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