
Casella, Alfredo - Symphonie Nr. 1
Beeindruckende orchestrale Vielfalt
Label/Verlag: Chandos
Detailinformationen zum besprochenen Titel
Gewohnt souverän, wenn auch mit leichten klanglichen Einschränkungen: Gianandrea Noseda und das BBC Philharmonic mit einer weiteren Folge von Orchesterwerken aus der Feder von Alfredo Casella.
Alfredo Casella (1883–1947) gehört zu jenen Komponisten, die auf Tonträgern deutlich präsenter sind als im Konzertsaal. Vor allem seine Orchesterwerke liegen teilweise in mehreren Einspielungen vor, Dirigenten wie Francesco La Vecchia und Alun Francis haben sich mit Nachdruck für das Schaffen des Tondichters eingesetzt. Der dritte im Bunde ist Gianandrea Noseda, der mit dem BBC Philharmonic Orchestra unter anderem bereits das Konzert für Orchester op. 61, die Zweite Symphonie op. 12 und – vielleicht Casellas populärstes Werk – die 'Scarlattiana' op. 44 (für Klavier und Orchester) aufgenommen hat. Beide CDs erschienen in der Reihe ‚Musica Italiana‘, mit der das Label Chandos eine Lanze für italienische (Orchester-)Musik brechen will. Hält sich doch in den Köpfen so mancher Musikfreunde immer noch hartnäckig das Klischee, in Italien gäbe es zwar großartige Opern-, aber fast keine Orchesterkomponisten.
Casella (der übrigens auch drei Opern schrieb) war tatsächlich in erster Linie der Instrumentalmusik zugeneigt, und hier insbesondere dem großen Orchester. Obwohl er ‚nur‘ drei Symphonien schrieb, dürfen diese als Meilensteine der Gattung in Italien angesehen werden – in den Jahren 1905 und 1906, als seine Erste Symphonie op. 5 entstand, gab es in Casellas Heimatland kaum vergleichbare, groß dimensionierte symphonische Musik. Mit seiner an Mahler und Strauss erinnernden Symphonie schrieb der Tondichter ein monumentales, wenn auch etwas unausgeglichenes Werk, dem auf der vorliegenden CD zwei kürzere Stücke zur Seite gestellt werden: Die symphonischen Fragmente aus der Ballettsuite 'Le Couvent sur l‘eau' op. 19 und die im Jahr 1916 entstandene 'Elegia eroica' op. 29.
Die hohen Erwartungen, die man an das BBC Philharmonic nach Kenntnisnahme der bisherigen Casella-Einspielungen stellen darf, werden auch hier weitgehend erfüllt. Gerade die symphonischen Fragmente erstrahlen in höchster Präzision mit souverän agierenden Holzbläsern und strahlendem Blech etwa im ersten Satz. Die von Casella geliebte, immer wieder solistisch auftretende Klarinette kann sich wahrlich hören lassen, und auch die zahlreichen perkussiven Einwürfe sitzen exakt. Noseda wählt schnelle, aber nicht überzogene Tempi und verleiht der Musik damit einen besonderen Schwung, dem man sich schwerlich entziehen kann. Wenn es überhaupt etwas auszusetzen gibt, dann vielleicht die nicht optimale Klangbalance: Naturgemäß schwächere Instrumente wie beispielsweise die Fagotte lassen sich zwischendrin nur erahnen, so sehr werden sie vom Rest des Orchester zugedeckt – womöglich eine Folge von Casellas zwar stets meisterlicher, aber hier und da wohl doch etwas ‚dicker‘ Instrumentation. Besser wirkt die Balance beim im dritten Abschnitt hinzutretenden Sopran-Solo (Casella entschied sich für eine textlose Vokalise), das von Gillian Keith hingebungsvoll interpretiert wird.
Von ähnlich hoher handwerklicher Qualität und Inspiration wie sein op. 19 ist Casellas 'Elegia eroica' op. 29, gewidmet ‚dem unbekannten Soldaten‘ (im Original: ‚Alla memoria di un soldato morto in guerra‘). Der Vergleich mit dem (sonst stilistisch sehr verschiedenen) Cellokonzert Edward Elgars liegt nahe; beide Werke können als musikalische Reaktion auf die Massaker des Ersten Weltkrieges verstanden werden. Der pathetisch-düstere, oft auch aufbrausende Tonfall zeigt den Komponisten von einer ganz anderen Seite als die doch eher heiter-lichtdurchflutete Ballettsuite; entsprechend groß ist die Herausforderung für den Dirigenten, dem neuen Ton gerecht zu werden. Noseda gelingt dies scheinbar mühelos: Die 'Elegia' wirkt gleichermaßen erschütternd wie musikalisch überzeugend, das gravitätisch-pathetische Element wird betont, aber nicht überbewertet. In diesem Fall sind es die wirklich blitzsauber gespielten Hörner des BBC Philharmonic, die eine lobende Erwähnung verdient haben.
Gegenüber seinen wohlausgewogenen und mit höchster handwerklicher Meisterschaft geschriebenen Symphonien Nr. 2 und 3 wirkt Casellas symphonischer Erstling etwas schwächer, aber – zumal in den Steigerungen des Finalsatzes – kaum weniger beeindruckend. Ein ausdrücklich als Scherzo bezeichneter Satz existiert nicht, zwischen Kopfsatz und Finale liegen ein 'Adagio' und ein 'Lento molto'. Auch im ersten Satz soll bisweilen 'Lento' gespielt werden, so dass der Dirigent vor allem vor der Aufgabe steht, das Stück nicht zu verschleppen. Noseda gelingt dies mit erneut zügigen, aber nicht zu schnellen Tempi und einer exakten Ansteuerung jener Zielpunkte, die stark an Tschaikowsky und Mahler erinnern. Die erstklassig strahlenden Blechbläser übertönen wohl hier und da den Rest des Orchesters, doch ein Hörgenuss ist das Werk allemal. Vor allem wer auf der Suche nach Abwechslung im symphonischen Repertoire ist und dafür gerne das eine oder andere nicht-erstklassige Werk hört, wird sich für Casellas Erste Symphonie begeistern.
Gerald Larner hat im Beiheft den schönen Satz geschrieben: ‚The charge of eclecticism would follow [Casella] for the rest of his career.’ Das ist sicherlich richtig, dennoch kann ich die drei hier zu hörenden Werke vollauf empfehlen. Vielleicht hatte der Komponist keinen explizit ausgeprägten Personalstil, aber er konnte mit höchster technischer Meisterschaft Musik schreiben, die den Hörer berührt, aber durch ihre einzigartigen instrumentalen Kombinationen auch fordert. Mehr kann man von einem Tondichter kaum verlangen.
Interpretation: Klangqualität: Repertoirewert: Booklet: |
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Detail-Informationen zum vorliegenden Titel:
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Casella, Alfredo: Symphonie Nr. 1 |
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Label: Anzahl Medien: Veröffentlichung: |
Chandos 1 06.11.2015 |
Medium:
EAN: |
CD
095115188026 |
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Chandos Chandos Records was founded in 1979 by Brian Couzens and quickly established itself as one of the world's leading classical labels. Prior to forming the label, Brian Couzens, along with his son Ralph, worked for 8 years running a mobile recording unit recording for major labels (including RCA, Polydor, CFP, etc.) with many of the world's leading artists.
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