
Solitaires - Klavierwerke von Ravel, Messiaen u.a.
Eine Krönungsmesse für Dutilleux
Label/Verlag: BIS Records
Detailinformationen zum besprochenen Titel
Solitäre, funkelnde Kronjuwelen der klassizistisch-modernen französischen Klaviermusik zwischen 1914 und 1948 hat Kathryn Stott 2014 auf einer großartigen SACD zusammengestellt.
Für diese Diamanten ist die Einfassung etwas zu unauffällig: Im BIS-Label-Schwarz mit zurückhaltendem Porträt der Pianistin hat dieser Tonträger im Jahr des Erscheinens zunächst keinen Rezensentenkollegen direkt angesprochen und wahrscheinlich eher wenige Klavierliebhaber jenseits der Insel, von der Stott stammt und wo ihre Karriere seit den 1980er Jahre zunächst mit regional beachteten und gelobten Aufnahmen für das Label Conifer erblühte. Sony hat just 2015 eine ebenfalls hierzulande wohl eher unauffällige Box mit den neun Soloaufnahmen der inzwischen übernommenen britischen Firma zu einem Spottpreis auf den Markt gebracht: Schon die Aufnahme der Klavierwerke von Frank Bridge ist die Anschaffung wert, das französische Programm von Chopins Balladen über Fauré, hin zu Debussy und Ravel eine manchen qualitativ bestimmt überraschende Zugabe (wie auch das ebenfalls enthaltene Rachmaninow- und das Liszt-Recital).
Britischen Rezensenten fiel 2015 natürlich vor allem ein, Ravels 'Tombeau de Couperin' in der prachtvollen Multichannel-Neueinspielung des nun schwedischen Labels eben mit jener geachteten Conifer-Version von 1990 zu vergleichen: Alleine schon die ausgezeichnete, den Steinway-D-Flügel als weiten Klangraum präsentierende Aufnahmetechnik beindruckt in ihrer Fortschrittlichkeit gegenüber der schon nicht schlechten britischen Hausversion; spielerisch ist die Entwicklung aber ebenso frappierend. Ravels musikalisches Trauermal, sein achtungsvoller Nachruf – auf die Ära der Clavecinisten des 18. Jahrhunderts, den laufenden Ersten Weltkrieg und noch den Tod seiner Mutter 1917 – findet in Kathryn Stott einen nahezu orchestralen Farbenreichtum, der die tatsächlichen Orchestrationen Ravels nicht vermissen lässt; die kontemporär reiche, gerne volltönende Anschlagskultur der Britin besitzt mehr klangliche Robustheit als die genuin französische Tradition qua Perlemutter, Samson François, Ousset oder Thibaudet. In gewisser Weise überträgt sie Elemente einer Ästhetik der Klangbreite, wie sie der britische Star-Pianist John Ogdon vor fast fünfzig Jahren geprägt hat, auf das französische Repertoire der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts.
Das Erbe von John Ogdon: symphonische Größe
Ogdon, bekannt für die bereitwillige Übernahme gerade der pianistischen Herkules-Aufgaben von Alkan bis Sorabji, wagte 1972 für sein Hauslabel EMI auch den Zugriff auf die beiden französischen Monumental-Sonaten von Paul Dukas (in der Dauer) und Henri Dutilleux (in technischer Schwierigkeit und Klangvielfalt). In der wahrlich goldglänzenden BIS-Soundfassung ragt die Dutilleux-Sonate von 1948 als ‚modernstes‘ Werk dieser Zusammenstellung wirklich als der alles überstrahlende Solitär heraus: Stott liefert hier Herausragendes an rhythmischen Dioramen, dynamischer Dramaturgie und Einfühlung in Dutilleux‘ ‚unorganisierten atonalen Instinkt‘ (Claude Rostand, zitiert im ebenfalls sehr guten Booklet-Text von Jean-Pascal Vachon). Die melancholische Erinnerung an die bekanntesten Referenzen von Geneviève Joy – der Ehefrau von Dutilleux, 1958 noch mono und etwas spröde – und eben John Ogdon findet angesichts der Klangwunder dieser jüngsten Aufnahme kaum mehr Platz, so überzeugend und ihr offenbar innigst vertraut präsentiert Kathryn Stott diese Meistersonate, welche so mühelos mit der besten zeitgenössischen Gattungskonkurrenz (etwa von Prokofjew) zu konkurrieren vermag.
Man setze den Titel der CD doch hier passend in den Singular: Dutilleux hat einen Sonaten-Solitär geschaffen, der die Tradition der klassisch dreisätzigen Klaviersonate auch nach dem Zweiten Weltkrieg konserviert wie ein heller Bernstein: Das Sonatenallegro liefert Energie, das ‚Lied‘ berührt, die finalen Choral-Variationen erheben. Wie dann aber gleichfalls der 'Kuss des Jesus-Kinds', den Stott aus Messiaens 'Vingt regards sur l‘enfant-Jésus' (1944) als Schlussstück erwählt hat, denn auch dieser unschuldig-liebevolle Kuss des Heilands führt zu kurzzeitig flirrender Ekstase (in welcher sogar weltlich anmutende Liebesschlager entrückt anzuklingen scheinen), in der man das virtuos Manuelle als Grundlage der konservierten Klanggestalt geradezu vergessen kann und danach um so mehr bewundert. Das kleine Vorspiel des Programms, Jehan Alains ebenfalls 1944 posthum publiziertes Präludium von 1935 mit kurzer (späterer Orgel-)Fuge, gerät da trotz Repertoire-Punkt fast aus dem Blick. Nicht nur wegen der stimmigen Werkauswahl, nein, wegen der bezwingenden Darstellung aller vier Schätze könnte man Stott auf dem grauen Cover ein klavierkönig(innen)lich strahlendes Diamantdiadem aufs Haupt wünschen.
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Detail-Informationen zum vorliegenden Titel:
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Solitaires: Klavierwerke von Ravel, Messiaen u.a. |
|||
Label: Anzahl Medien: Veröffentlichung: |
BIS Records 1 01.07.2015 |
Medium:
EAN: |
SACD
7318599921488 |
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BIS Records Most record labels begin with a need to fill a niche. When Robert von Bahr founded BIS in 1973, he seems to have found any number of musical niches to fill. The first year's releases included music from the renaissance, Telemann on period instruments, Birgit Nilsson singing Sibelius and works by 29 living composers - Ligeti and Britten as well as Rautavaara and Sallinen - next to Purcell, Mussorgsky and Richard Strauss. A musical chameleon was born, a label that meant different things to different - and usually passionate - devotees. Mehr Info... |
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