
Strauss, Richard - Elektra
Singende Diseuse
Label/Verlag: Immortal Performances
Detailinformationen zum besprochenen Titel
Rose Pauly lässt jüngere Strauss-Sängerinnen, selbst bejubelte Rollenvertreterinnen, im Vergleich ziemlich blass aussehen. Wie gut, dass diese Stimme klanglich dokumentiert wurde.
Rose Pauly (1894–1975) kennt der Musikinteressierte, wenn er Glück hat, durch ihre Leonoren-Arie aus 'Fidelio' und ein paar kurze Ausschnitte aus Richard Strauss‘ 'Ägyptischer Helena' unter Fritz Busch aus Berlin – Buschs zentraler Beitrag zur Strauss-Diskografie überhaupt. Pauly war eine Sängerin, mit der Busch nur selten zusammenarbeitete, die aber die Helena beim Gastspiel der Sächsischen Staatsoper in Genf 1929 sang, ein Jahr nach der Dresdner Uraufführung. Die kurzen Ausschnitte aus der 'Ägyptischen Helena' wie auch die Leonoren-Arie, die auf der zweiten CD der Produktion zu finden sind, sind hier aber fast nur dekoratives Beiwerk. Im Zentrum steht 'Elektra', in einer auf gut 70 Minuten gekürzten Konzertfassung aus der Carnegie Hall vom 21. März 1937, in der zahlreiche Nebenrollen gestrichen sind, so dass der Fokus ganz auf der Titelfigur liegt. Selbst die große Szene Elektra–Klytämnestra ist deutlich gekürzt, die Partie des Orest fast jener des Ägisth gleich zur Nebenrolle degradiert.
Rose Pauly war was man vielleicht eine singende Diseuse nennen kann – eine Darstellerin, bei der der Gesang nie angestrengt wirkt, bei der die Seelenqualen wirklich genuin wirken, nicht wie die Ergüsse einer Hochdramatischen, bei der man sich fragen muss, warum sie nicht selbst zum Beil greift. Pauly hatte ihren Durchbruch 1919/20 in Hamburg als Aida, war aber auch berühmt als Fidelio-Leonore und als Salome – beides Rollen, die auch in der vorliegenden Edition berücksichtigt werden. Durch die Nazis verfolgt, trat sie 1937 noch in Salzburg auf, ehe sie Europa den Rücken kehrte. Ihrem New Yorker Debüt mit der vorliegenden Aufführung folgten erfolgreiche Auftritte als Elektra an der Metropolitan Opera und in San Francisco, ehe sie sich Rollen wie Ortrud und Venus zuwandte. Nach dem Krieg ließ sie sich in Palästina nieder. Paulys musikalische und darstellerische Intelligenz kommt etwa im großen Monolog 'Allein! Weh, ganz allein! ' aufs Herrlichste zur Geltung, die Textverständlichkeit ist exemplarisch, die Expression fein dosiert, die Steigerungen dynamisch und agogisch optimal ausgearbeitet (unerbittlich und hinreißend die Mordszene). Doch über allem thront die Textausdeutung Paulys, die musikalisch auf das Glücklichste zu dem Gesamterlebnis beiträgt.
Neben Pauly brillieren hier allesamt Sänger, die heute eher der Vergessenheit anheimgefallen sind. Charlotte Boerner (die in Düsseldorf 1928 unter Jascha Horenstein zwölfmal den Komponisten in 'Ariadne auf Naxos' gab, im 'Rosenkavalier' in Berlin und Dresden – teilweise unter Strauss selbst – die Sophie) ist eine vergleichsweise leichtstimmige Chrysothemis (sie sang die Partie 1936 auch in Cleveland), eine Mischung von Pilar Lorengar und Rita Streich sozusagen, eine fragil klingende Stimme, deren weibliche Verletzlichkeit ein schönes Gegenbild zu Paulys dramatischerem Duktus bildet; das ‚Duett‘ der Schwestern gegen Ende habe ich selten so schön gesungen gehört, fast als sei es dem 'Rosenkavalier' entstiegen. Die ungarische Altistin Enid Szánthó (als Klytämnestra auch in Chicago, Cleveland, Detroit und New York zu hören) hat nicht die Unmittelbarkeit der größten Klytämnestras der Schallplattengeschichte, doch verfügt sie über eine voluminöse, charaktervolle Stimme, die sich aber vielleicht nicht genügend von Paulys absetzt. Julius Huehn als Orest und Frederick Jagel als Ägisth waren verlässliche Ensemblekräfte der Metropolitan Opera, die auch hier das Gesamtergebnis stützen, sich nicht in den Vordergrund drängen, aber auch keine exzeptionellen Leistungen abliefern.
Das Philharmonic-Symphony Orchestra of New York hat zunächst einige Schwierigkeiten, die teilweise brutalen Kürzungen der Partitur zu einem stimmungshaften Ganzen zusammenzuzwingen. Artur Rodziński lässt die Musik schwelgen, hebt den expressiven Klanggestus hervor, stärker denn die ‚Nervenkontrapunktik‘. Die Mordszenen geraten zu Klangbildern des Spätexpressionismus, effektvoll unterbrochen durch Momente der scheinbaren Zurücknahme der Spannung (die kurze Szene Elektra-Ägisth ist beklemmend sowohl in der sängerischen als auch orchestralen Leistung). Der Schüler u.a. von Franz Schreker und Franz Schalk erweist sich als genuiner Abkömmling der legendären Wiener Dirigentenschule, die mit Karl Böhm, Erich Leinsdorf und Hans Swarowsky ausstarb.
Allerhand Bonusmaterial komplettiert die Edition: insgesamt sechsminütige Ausschnitte aus einer 'Elektra'-Aufführung aus der Metropolitan Opera vom 3. Dezember 1932 mit Gertrude Kappel als Elektra, Göta Ljungberg als Chrysothemis und Karin Branzell als Klytämnestra unter der Leitung eines anderen Mitglieds der Wiener Dirigentenschule, Artur Bodanzky (Schüler u.a. von Alexander Zemlinsky und Assistent von Gustav Mahler), der einen durchaus anderen, nervöseren Zugriff zu dem Werk pflegt als Rodziński in der hier vorliegenden Konzertaufführung. Zentraler Bonus aber ist ein fast vollständiges Strauss-Konzert aus New York vom 27. Februar 1938 unter der Leitung von John Barbirolli ('Till Eulenspiegels lustige Streiche' scheint nicht erhalten zu sein). Nach einer Darbietung des 'Don Juan', die orchestral teilweise mehr ‚rough-and-ready‘ denn raffiniert dargeboten wird, folgen 'Verführung' und 'Gesang der Apollopriesterin' op. 33 Nr. 1 & 2, die ebenfalls teilweise unter der minderen Orchesterleistung leiden (neuere Einspielungen sind der Interpretation im Detail haushoch überlegen). In 'Gesang der Apollopriesterin' kommt Paulys expressive (teilweise intonatorisch etwas zu tiefe) Wortgestaltung abermals bestens zur Geltung, während die Phrasengestaltung nicht ganz so organisch ist wie man sich wünschen könnte – für ein vor 1900 komponiertes Werk ist die Interpretation ausgesprochen modern, entlockt dem Stück Farben, die so vielleicht nicht intendiert gewesen sein mögen, die aber eine zusätzliche Attraktion bieten.
Höhepunkt aber ist ganz ohne Frage die 'Salome'-Schlussszene – ganz Feuer, Farbe und Emotion. Leider ist bei den genannten drei Vokalbeiträgen (die in früheren Remasterings schon bei Guild Historical erschienen) die Tonklarheit derart stark beeinträchtigt, dass Paulys Textverständlichkeit nicht ganz so zum Tragen kommt wie in der 'Elektra'. In gänzlich anderer Tradition scheint die Rundfunkübertragung von 'Allerseelen' op. 10 Nr. 8 (vermutlich in Robert Hegers Orchestrierung) aus Detroit unter der Leitung Fritz Reiners – gänzlich anderer Orchesterklang ist hier zu hören, wärmer, weicher, dem Lied durchaus angemessen. Textklarheit, aber auch intonatorische Unsicherheiten schließlich sind gleichermaßen offenkundig in den Ausschnitten aus 'Die ägyptische Helena', während die Leonoren-Arie, beeinträchtigt durch eine mindere Orchesterleistung, die Doppel-CD zu einem nicht ganz befriedigenden Ende führt (ihr Spitzenton als Leonore kommt nicht organisch, sondern wird quasi nachgeschoben).
Allein schon Paulys Elektra wegen sollte die Edition in keiner Strauss-Kollektion fehlen. Richard Caniells Remasterings holen das Möglichste aus den teilweise inferioren Klangvorlagen heraus, zu teilweise erstaunlichem Effekt. Am leichtesten scheint das Remastering bei den 'Helena'-Ausschnitten gewesen zu sein, von Studio-Schellacks, derer es viele auf dem Markt gibt. Dahingegen sind die Live-Mitschnitte teilweise nur in klanglich stark beeinträchtigter Form über uns gekommen – doch dies vergisst der interessierte Hörer zumeist angesichts der bedeutenden Interpretationen, die, allen voran in der 'Elektra', fast jede neuere Lesart als teilweise deutlich minderwertig erscheinen lassen.
Das Booklet ist, wie zumeist bei Immortal Performances, eine offenkundige Herzensangelegenheit, wodurch aber etwas der Kern aus dem Blick verloren wird. Weniger stärker fokussierte Textbeiträge sowie bessere Recherche würden dem Ganzen noch mehr Wert geben, als die Edition ohnehin schon hat. Wieso biografische Anmerkungen zu Szánthó nachgeliefert werden mussten und warum keine Informationen zu Boerner gefunden wurden (die dem Rezensenten mit wenigen Handgriffen verfügbar waren – neben ihrer sängerischen Karriere wandte sich Boerner dem Film zu und wirkte u.a. in ‚Rosemarys Baby‘ mit!), weshalb die Opuszahl und der Orchestrator von 'Allerseelen' fehlen, sind nur einige der Fragen, die sich wenigstens der Rezensent stellt. Nichtsdestotrotz haben wir hier eine wichtige Veröffentlichung, die mit Leichtigkeit (trotz der Kürzungen und der teilweise problematischen Klangtechnik) Hifi-'Elektra'-Aufnahmen mit Deborah Polaski oder Evelyn Herlitzius, selbst Leonie Rysanek oder Birgit Nilsson leicht ganz blass aussehen lässt.
Interpretation: Klangqualität: Repertoirewert: Booklet: |
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Detail-Informationen zum vorliegenden Titel:
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Strauss, Richard: Elektra |
|||
Label: Anzahl Medien: |
Immortal Performances 2 |
Medium:
EAN: |
CD
748252293145 |
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Immortal Performances Immortal Performances returns with new CD releases, this time on its own label. This Canadian-based, federally chartered, non-profit archive has gathered a huge number of historic broadcasts gathered over a 50-year period. Their first 48 albums were released by Naxos, followed with 53 albums by Guild Music. Both companies originally formed their Historical label series in order to release Immortal Performances? restorations. Immortal Performances has spent the past three years searching for the original and finest sources of many historic broadcasts. It has now assembled 48 CD albums of exceptional importance that it proposes to release, the first 8 sets of which are available now. These albums offer the finest sound in the historic-era genre and include extensive notes about the singers, the performance and composer, with biographies and rare production photos. Immortal Performances will continue releasing complete Toscanini broadcasts (1935-1954), exciting recordings from the Metropolitan Opera and European Opera Houses, the Russian Legacy as well as operatic broadcasts in association with Busch Brüder Archiv in Germany and the National Library of Canada. Richard Caniell, its archivist and chief guiding light says, ?I hope our forthcoming releases will corroborate our logos, The Ultimate in Historic Broadcast Recordings.? Mehr Info... |
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