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Montag, 25. September 2023

Finzi, Gerald - Kammermusik

Wo ist bloß mein Körbchen hin?


Label/Verlag: MDG
Detailinformationen zum besprochenen Titel


Die Kölner Kammersolisten widmen sich Kammermusikwerken von Gerald Finzi. Das Zusammenspiel ist exzellent aufeinander abgestimmt.

Das Oeuvre Gerald Finzis (1901–1956) ist insgesamt äußerst überschaubar. Der englische Komponist, der zu Hause erzogen wurde, war Schüler u.a. des im Ersten Weltkrieg gefallenen Ernest Farrar, später von Edward Bairstow und Reginald Owen Morris. Schon bald ließ er das städtische Leben wieder hinter sich und widmete sich seinen beiden Leidenschaften, der Musik und der Apfelzucht. Extrem selbstkritisch als Komponist, kam es nicht selten vor, dass er fertige Kompositionen verwarf oder mit ihnen jahrzehntelang rang.

Die vorliegende SACD umfasst sämtliche Kammermusikwerke Finzis (die beliebteste davon in einer Bearbeitung), dazu zwei weitere für kammermusikalische Besetzungen eingerichtete originale Orchesterkompositionen und eine Rarität, den ‚Diabelleries‘ genannten Variationenzyklus über 'Where‘s my little basket gone? ' über ein Thema des Amateurkomponisten Alfred Scott-Gatty. Die Komposition ist von unbeschwerter Leichtigkeit – das Besondere liegt anderswo: Es handelt sich um eine der raren Gemeinschaftskompositionen gleich einer ganzen Reihe renommierter Komponisten. Nachdem Ralph Vaughan Williams das Thema vorgestellt hat, folgen durchaus charaktervolle Variationen von Howard Ferguson, Alan Bush, Alan Rawsthorne, Elisabeth Lutyens, Elizabeth Maconchy, Finzi, Grace Williams und (Finale) Gordon Jacob. Die Komposition für die aparte Besetzung Flöte, Oboe, Klarinette, Fagott, Horn, Trompete und Streicher (in einer Variation zusätzlich Schlagzeug) erlebte ihre Uraufführung 1955 in der legendären Konzertreihe der Macnaghten Music Group im Arts Council Drawing Room. Nahezu alle Variationen anderer Komponisten sind interessanter als jene Finzis, doch ergeben die neun Beiträge insgesamt ein überaus geschlossenes Ganzes, obwohl und vielleicht auch gerade weil sich die Variationen ganz unterschiedlich weit vom thematischen Material entfernen. Ich habe diese Komposition immer als Desideratum auf dem Tonträgermarkt angesehen, da die anderen großen britischen Variationen-Gemeinschaftswerke aus dem 20. Jahrhundert (Variationen über Cadet-Rousselle, Sellinger‘s Round – zu den Mitarbeitern zählen hier u.a. Eugene Goossens, John Ireland, Frank Bridge, Arnold Bax, Lennox Berkeley, Michael Tippett, Humphrey Searle, Benjamin Britten, William Walton oder Imogen Holst), die seit längerem auf dem Markt vorhanden sind, ausgesprochen hohe Qualität erwarten ließen. Man wird nicht enttäuscht – auch nicht durch die Deutung der Kölner Kammersolisten, ein 2011 gegründetes Ensemble, das über exzeptionelles Aufeinander-Hören und -Reagieren verfügt und so eine Referenzeinspielung der Rarität vorlegt.

Finzis eigene Kammermusikkompositionen haben andere Qualitäten; sie verfügen über einen starken lyrischen Zauber, der aber fast immer durch eine gehörige Portion Melancholie gebrochen wird. Finzi war ein äußerst selbstkritischer Komponist, viele seiner Werke verwarf er, von anderen gab er nur einzelnen Sätze frei, an wiederum anderen arbeitete er teilweise über Dekaden. Das 'Introit' op. 6 für Violine und Orchester war der einzige freigegebene langsame Satz seines Violinkonzerts, hier wurde der Klavierauszug von Howard Ferguson eingespielt, einem engen Freund des Komponisten und späteren Nachlassverwalter. Das 'Introit' – hier dargeboten durch José Maria Blumenschein und Nicholas Rimmer – gewinnt im Klavierauszug tiefe melancholische Intimität, auch wenn das orchestrale Gewand durchaus fehlt. Während sich Rimmer wohltuend zurückhält, beeinträchtigt Blumenscheins Espressivo-Vibrato etwas die klare Linienführung des Violinparts; dafür gelingt aber beiden Interpreten eine Darbietung tiefer Innerlichkeit.

In den 1920er-Jahren entstand die 'Romance' op. 11 für Streichorchester, hier dargeboten in einer Fassung für Streichquartett von Christian Alexander. Des breiten Klangteppichs entkleidet, gerät das Stück zu einer wunderbaren innigen Miniatur; die Texturen treten noch klarer hervor als in der Orchesterfassung, die einzelnen Einsätze erhalten durch die solistische Besetzung wunderbare Intimität.

Die dritte Bearbeitung von fremder Hand sind die fünf Bagatellen op. 23 für Klarinette und Klavier, hier von Christian Alexander für Klarinette und Streichquartett bearbeitet. Ein wenig bedauert man, dass hier nicht auch die Originalfassung mit vorgelegt wurde, aber die SACD ist randvoll. Im Vergleich zur Originalkomposition verfügt die vorliegende Fassung über weitaus stärkere polyphone Qualitäten, doch kommt Finzis Melancholie vielleicht nicht ganz so glücklich zur Geltung.

Die 'Elegy' op. 22 für Violine und Klavier wie auch Präludium und Fuge op. 24 für Streichtrio heben Finzis Interesse für Musik der Vergangenheit hervor. Im direkten Vergleich scheint die 'Elegy' satztechnisch weniger attraktiv gearbeitet zu sein als Fergusons Klavierauszug des 'Introit'. Auch hier haben wir herrliche melancholische Melodielinien, die aber durch den Violinisten abermals etwas beeinträchtigt werden. Präludium und Fuge für Streichtrio ist im Grunde ein Pendant zur 'Romance', vielleicht noch innerlicher als der Streichquartettsatz. Fast verliert man sich in der ‚serenity‘ der Komposition. Alle drei Musiker finden hier einen beglückend zurückgenommenen Ton, der der Musik eine Klarheit eignet, die einerseits durch die äußerst plastische Aufnahmetechnik unterstützt wird, die aber auch von der Partitur selbst gegeben ist. Die drei Stimmen (José Maria Blumenschein, Xandi van Dijk und Oren Shevlin) bewahren auch im engsten Zusammenspiel ihre Individualität; wenn es an etwas mangelt, so an dem typischen Finzi-Idiom.

Das 'Interlude' op. 21 für Oboe und Streichquartett wurde im Wesentlichen 1928 komponiert, erhielt seine endgültige Gestalt aber erst 1951 kurz vor ihrer Veröffentlichung. Es handelt sich um den längsten in sich geschlossenen Satz auf der vorliegenden SACD, ein intimes, stark expressives Werk. Tom Owen wandelt auf den Spuren des legendären Leon Goossens, der seinem Instrument aber noch mehr Farben entlocken konnte; im Vordergrund der Interpretation stehen hier eher die Streicher (José Maria Blumenschein, Ye Wu, Florian Peelmann und Oren Shevlin), die Finzis Idiom um einen Tacken näher sind.

Das opulent mehrsprachige Booklet enthält eine ausführliche Einführung Christian Alexanders, in der man sich allerdings noch etwas exaktere Informationen bezüglich der Werkgenese gewünscht hätte; auch fehlen im Tracklisting die Opuszahlen, die man sich aus dem Booklettext mühsam zusammensuchen muss. Ansonsten haben wir hier aber eine beglückende, in Vielem überraschende Produktion, die auch dem Kenner Neues bietet.

Interpretation:
Klangqualität:
Repertoirewert: 
Booklet:





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Detail-Informationen zum vorliegenden Titel:



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    Finzi, Gerald: Kammermusik

Label:
Anzahl Medien:
Veröffentlichung:
MDG
1
27.04.2015
Medium:
EAN:

SACD
760623189468


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MDG

Die klangrealistische Tonaufnahme

»Den beim Sprechen oder Musizieren entstehenden Schall festzuhalten, um ihn zu konservieren und beliebig reproduzieren zu können, ist eine Idee, die seit langem die Menschen beschäftigte. Waren zunächst eher magische Aspekte im Spiel, die die Phantasie beflügelten wie etwa bei Giovanni deila Porta, der 1598 den Schall in Bleiröhren auffangen wollte, so führte mit fortschreitender Entwicklung naturwissenschaftlichen Denkens ein verhältnismäßig gerader Weg zur Lösung...« (Riemann Musiklexikon)

Seit Beginn der elektrischen Schallaufzeichnung ist der Tonmeister als »Klangregisseur« bei der Aufnahme natürlich dem Komponisten und dem Interpreten, aber auch dem Hörer verpflichtet. Die Mittel zur Tonaufzeichnung sind hinlänglich bekannt. Die Kriterien für ihren Einsatz bestimmt das Ohr. Deshalb für den Hörer hier eine Beschreibung unserer Hörvorstellung.

Lifehaftigkeit

In der Gewißheit, daß der Konzertsaal im Wohnzimmer (leider) nicht realisierbar ist, konzentriert sich unser Bemühen darauf, die Illusion einer Wirklichkeit zu vermitteln. Die Musik soll im Hörraum so wiedererstehen, daß spontan der Eindruck der Unmittelbarkeit entsteht, das lebendige Klanggeschehen mit der ganzen Atmosphäre der »Lifehaftigkeit« erlebt wird. Da wir praktisch ausschließlich menschliche Stimmen und »klassische« Instrumente - auch sie haben ihren Ursprung im Nachahmen der Stimme - aufnehmen, konzentriert sich unsere Klangvorstellung auf natürliche Klangbalance und tonale Ausgeglichenheit im Ganzen, und instrumentenhafte Klangtreue im Einzelnen. Darüber hinaus natürliche, ungebremste Dynamik und genaueste Auflösung auch der feinsten Spannungsbögen. Weitestgehend bestimmend für die Illusion der Lifehaftigkeit ist auch die Ortbarkeit der Klangquellen im Raum: freistehend, dreidimensional, realistisch.

Musik entsteht im Raum

Um diesen »Klangrealismus« einzufangen, ist bei den Aufnahmen von MDG eine natürliche Akustik unbedingte Voraussetzung. Mehr noch, für jede Produktion wird speziell in Hinblick auf die Besetzung und den Kompositionsstil der passende Aufnahmeraum ausgesucht. Anschließend wird »vor Ort« die optimale Plazierung der Musiker und Instrumente im Raum erarbeitet. Dieser ideale »Spielplatz« ermöglicht nun nicht nur die akustisch beste Aufnahme, sondern inspiriert durch seine Rückwirkung die Musiker zu einer lebendigen, anregenden Musizierlust und spannender Interpretation. Können Sie sich die Antwort des Musikers vorstellen auf die Frage, ob er lieber in einem trockenen Studio oder in einem Konzertsaal spielt?

Die Aufnahme

Ist der ideale Raum vorhanden, entscheidet sich der gute Ton an den Mikrofonen - verschiedene Typen mit speziellen klanglichen Eigenheiten stehen zur Auswahl und wollen mit dem Klang der Instrumente im Raum in Harmonie gebracht werden. Ebenso wichtig für eine natürliche Abbildung ist die Anordnung der Mikrofone, damit etwa die richtigen Nuancen in der solistischen Darstellung oder die Kompensation von Verdeckungseffekten realisierbar werden. Das puristische Ideal »nur zwei Mikrofone« kann selten den komplexen Anforderungen einer Aufnahme mit mehreren Instrumenten gerecht werden. Aber egal wie viele Mikrofone verwendet werden: Stellt sich ein natürlicher Klangeindruck ein, ist die Frage nach dem Zustandekommen des »Lifehaftigen« zweitrangig. Entscheidend ist, es klingt so, als wären nur zwei Mikrofone im Spiel.

Ohne irgendwelche »Verschlimmbesserer« wie Filter, Limiter, Equalizer, künstlichen Hall etc. zu benutzen, sammeln wir die Mikro-Wellen übertragerlos in einem puristischen Mischpult und geben das mit elektrostatischem Kopfhörer kontrollierte Stereosignal linear und unbegrenzt an den AD-Wandler und zum digitalen Speicher weiter. Dadurch bleiben auch die feinsten Einschwingvorgänge erhalten. Auf der digitalen Ebene wird dann ohne klangmanipulierende Eingriffe mit dem eigenen Editor in unserem Hause das Band zur Herstellung der Compact Disc für den Hörer erstellt, für Ihr hoffentlich großes Hörvergnügen.


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