
Sorabji, Kaikhosru - 100 Transcendental Studies
Hyperkomplex
Label/Verlag: BIS Records
Detailinformationen zum besprochenen Titel
Fredrik Ullén ist ein schlichtweg famoser Interpret der in jeder Hinsicht schwierigen Etüden von Kaikhosru Sorabji. Da bleibt nur eins: Vor dem Interpreten tief verbeugen und sich Hals über Kopf in die Musik werfen.
‚Ich wusste, dass er auf radikalste Weise praktisch veranlagt war. Die Sorte Mensch, die man anruft, wenn man seine Frau umbringt. Selbst die Musik ist praktisch – auf eine verrückte Weise.‘ So äußerte sich Kenneth Derus 1993 in einem Vortrag anlässlich des 100. Geburtstags von Kaikhosru Sorabji (1892–1988), jenem Komponisten, dem man nachsagt, er habe gegen Interpreten, Publikum und Kritik gleichermaßen ankomponiert. Einem Komponisten, der sich um Konventionen und Renommee nicht scherte. Einem scharfzüngigen Beobachter seiner Zeit, der wenig an seiner Gegenwart schätzte und vierzig Jahre lang eine öffentliche Aufführung seiner Musik untersagte. Einem Komponisten, der insgesamt 90 Stunden Klaviermusik komponierte, darunter acht Werke von zwei bis vier Stunden Dauer, sieben von fünf bis sechs Stunden und zwei von acht bis neun Stunden Dauer. Einer seiner Klaviersonaten, so Derus im Bookletessay zur vorliegenden CD, dauert so lange wie alle Schubert-Sonaten zusammengenommen.
Ein solcher Komponist erlangt so geradezu zwangsläufig einen äußerst zweifelhaften Ruf. Seine Musik sei unspielbar (sagen jene, die es nicht können – wenige Gegenbeispiele bestätigen die Regel), seine Werke seien zu lang (sagen jene, die seinen Werkkatalog nicht sorgfältig studiert haben), seine Werke seien hyperkomplex. Letzteres ist keineswegs unzutreffend – oft ist seine Klaviermusik sieben-, acht- oder neunstimmig, nicht selten in ebenso vielen unterschiedlichen Rhythmen, und nicht selten notiert Sorabji den Klavierpart in weit mehr als drei Systemen, mitunter auf nicht weniger als sechs Systemen. Wenn ein Komponist dann auch noch hundert Transzendentaletüden schreibt, die Liszts überschaubare Anzahl von zwölf natürlich weit hinter sich lassen, weckt das Interesse, aber auch Skepsis. Eigentlich könnte jene Musik eine Art Ideal für Adorno und Adornianer sein – wäre sie nicht mitunter extrem sensualistisch und damit eben nicht rein intellektuell rezipierbar.
Die Etüden entstanden 1940-44 und nehmen eine wichtige Schlüsselposition in seiner Reifezeit ein. Drei der hier vorgelegten lassen Konzept und Idee traditioneller Etüden weit hinter sich – eine siebzehnminütige Art expressionistische Walzeretüde, ein sechsundzwanzigminütiges Stück über dem Orgelpunkt A, über das allein ganze Dissertationen geschrieben werden könnten, und eine dreizehneinhalb Minuten lange 'Aria', einer hochpolyphonen Struktur einander überlagernder Kantilenen. Die restlichen sechs Stücke sind von weitaus bescheidenerem Umfang (zweieinhalb bis sechs Minuten) und erkunden in technisch unterschiedlicher Ausrichtung Sorabjis musikalisches Universum – immer spannungsvoll und spannend, immer mit durchaus eigenem Charakter, ohne dass Sorabji die Tonalität hätte vollends aufgeben und die Tradition, in der er sich sieht, konterkarieren zu müssen. Viele Komponisten werden als Einfluss auf Sorabji genannt, Saint-Saëns, Ravel, Godowsky, Busoni oder Skrjabin, um nur einige zu nennen, doch kommt man seiner Eigenart damit kaum bei. Ebenso ungerecht wäre es, würde man Sorabji einfach als Vorboten Finnissys oder Ferneyhoughs ansehen wollen – zu eigen ist Sorabjis Klangsprache, zu bedeutsam sein Beitrag für die Musikgeschichte. Er ist sozusagen eine Transzendenz von Klaviermusik der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts überhaupt – einmal gehört, kann man eine große Menge der zuvor oder zeitgleich geschriebenen Klaviermusik zukünftig rechts oder links liegenlassen – und nicht wenige der danach komponierten.
Dass ein Pianist alle die von Sorabji vorgeschriebenen Töne spielen kann, ist fast nicht vorstellbar. ‚Unstrukturierte Notenverläufe in beiden Händen, die sich mehrere Minuten lang mit einer Geschwindigkeit von fast tausend Noten pro Minute fortbewegen‘ – so fasst es Derus treffend zusammen. Fredrik Ullén, abonniert auf Schwieriges und Schwierigstes, hat sich der herkulischen Gesamtaufgabe gestellt, mit höchst beeindruckendem Erfolg. Ob einzelne Töne vielleicht falsch sein könnten, scheint völlig unerheblich – das Gesamtergebnis ist von einer atemberaubenden Komplexität und scheinbaren Mühelosigkeit, dass man als Zuhörer nur bescheiden aufmerksam sitzen kann, als Interpret nicht selten vor Scham erblassen, weil einem selbst ein solcher musikalischer Kosmos ewig verschlossen bleiben wird. Ulléns kluge Ausführungen zu den Kompositionen im Booklet ergänzen ideal Derus‘ witzige und doch treffende Einführung in Sorabji und sein Schaffen (leider ist die deutsche Übersetzung teilweise etwas uninspiriert), und auch die Aufnahmetechnik dient der Musik auf vorbildliche Weise. Rundum ganz außerordentlich empfehlenswert. Wenn Sie gute Nerven haben.
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Detail-Informationen zum vorliegenden Titel:
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Sorabji, Kaikhosru: 100 Transcendental Studies |
|||
Label: Anzahl Medien: Veröffentlichung: |
BIS Records 1 01.04.2015 |
Medium:
EAN: |
CD
7318590018538 |
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BIS Records Most record labels begin with a need to fill a niche. When Robert von Bahr founded BIS in 1973, he seems to have found any number of musical niches to fill. The first year's releases included music from the renaissance, Telemann on period instruments, Birgit Nilsson singing Sibelius and works by 29 living composers - Ligeti and Britten as well as Rautavaara and Sallinen - next to Purcell, Mussorgsky and Richard Strauss. A musical chameleon was born, a label that meant different things to different - and usually passionate - devotees. Mehr Info... |
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