
Scelsi, Giacinto - Suite 9 und 10 per pianoforte
Schlüssige Scelsi-Lektüre
Label/Verlag: WERGO
Detailinformationen zum besprochenen Titel
Mit ihrer neuesten CD begibt sich die Pianistin Sabine Liebner auf die Spuren des Komponisten Giacinto Scelsi und entdeckt die harmonischen Strukturen seiner Musik neu.
Durch ihre CDs der letzten Jahre – ihre außerordentlichen, teils sehr dichten Interpretationen zentraler Werke John Cages und anderer Komponisten der New York School – hat sich die Pianistin Sabine Liebner als Spezialistin für die zumeist experimentelle amerikanische Klaviermusik seit 1950 aufgestellt. Solche Fokussierungen sind immer heikel, da sie die Interpreten in eine bestimmte Repertoireecke drängen, aus der sie oft nicht mehr herauskommen. Nicht so in Liebners Fall: Mit der Wahl von Giacinto Scelsis Klaviersuiten Nr. 9 und 10 aus den Jahren 1953 und 1954 durchbricht sie in einer neuen Wergo-Veröffentlichung die vormalige Fixierung auf die amerikanische Avantgarde und widmet sich dem nicht unumstrittenen, exzentrischen italienischen Komponisten. Die Wahl der beiden Kompositionen ist dennoch bezeichnend, fordert die Pianistin damit doch ganz bewusst einen Vergleich zur kongenialen Einspielung beider Werke durch die Interpretin der ersten Stunde, die Pianistin Marianne Schroeder, heraus – eine Aufnahme, die 1987 bei hat art erschien und derzeit nicht mehr im Handel, sondern höchstens antiquarisch erhältlich ist.
An Liebners interpretatorischem Ansatz fällt sofort ein wesentlicher Unterschied gegenüber Schroeders Auseinandersetzung mit Scelsis Musik auf: Sie benötigt für viele Einzelsätze häufig länger, was sich vor allem darin äußert, dass sie sich bei deren Binnengestaltung viel mehr Zeit beim Austasten harmonischer Verläufe nimmt und daher weitaus flexibler an die Tempogestaltung herangeht. Zudem vermeidet Liebner die ins Licht gerückte Klarheit, die Schroeder manchen Passagen verleiht, und ist in mancherlei Hinsicht auch weicher und nachgiebiger in der Artikulation, setzt dieser Tendenz allerdings – unterstützt durch differenzierten Einsatz des Tonhaltepedals – eine stärker gewichtete Herausarbeitung harmonischer Kontexte entgegen, indem sie ihre Interpretation vorzugsweise auf eine Erschließung des Innenlebens von Klängen richtet.
Besonders deutlich wird dies im Zusammenhang mit der Suite Nr. 9, deren konzentrierte Umsetzung zugleich auf eine stringente Darstellung der formalen Architektur im Sinne eines allmählichen Prozesses der Untersuchung unterschiedlicher Klangräume abzielt. Liebners Zugang überrascht insbesondere durch vielfältige Übergänge zwischen strenger Ruhe und in die Harmonik ausgreifender Bewegung, exemplarisch im zweiten Satz mit seinem klangvollen Gegenüber von Akkorden und fein ziselierten Repetitions- und Trillergeweben erfahrbar. Auffällig ist der geradezu plastische Umgang mit den auskomponierten Ereignissen: So werden die Kaskaden von Einzeltönen im vierten Satz ganz allmählich aus der harmonischen Fläche herausgearbeitet, so dass über den Grundtönen nach und nach ein immer stärker profiliertes Klangrelief entsteht; und selbst dort, wo – wie im fünften Satz – der repetitive Charakter akkordischer Ereignisse überwiegt, steht die möglichst plastische Gestaltung im Sinne einer ausgeprägten harmonischen Strukturierung im Vordergrund.
In der von vielfältigeren Bewegungsformen bestimmten Suite Nr. 10 bewahrt Liebner gleichfalls eine ruhige Grundhaltung, ohne jedoch darauf zu verzichten, die rhythmischen Elemente – wie im ersten Satz – deutlich auszuformen. Auch in diesem Fall bleibt sie bei der Wiedergabe flexibel und orientiert sich, wie der von repetierten Klängen durchzogene zweiten Satz unterstreicht, in Richtung auf einen verschiedene Ebenen des Tonraums anregenden Gesamtklang. Selbst Augenblicke wie die unruhigen rhythmischen Irregularitäten im dritten, vierten und fünften Satz, zum Teil verknüpft mit der Zunahme von Dichte oder Bewegungsenergie, bleiben diesem Ziel immer untergeordnet. Hieraus ergibt sich ein schlüssiger Gesamteindruck von Liebners Interpretation, der dem Ansatz von Marianne Schroeder eine ernsthafte, dem von Scelsi selbst gern ins Spiel gebrachten meditativen Gehalt seiner Musik weitaus stärker nachspürende Gegenposition repräsentiert.
Interpretation: Klangqualität: Repertoirewert: Booklet: |
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Detail-Informationen zum vorliegenden Titel:
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Scelsi, Giacinto: Suite 9 und 10 per pianoforte |
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Label: Anzahl Medien: Veröffentlichung: Spielzeit: |
WERGO 1 27.03.2015 59:36 |
Medium:
EAN: BestellNr.: |
CD
4010228679427 WER 67942 |
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WERGO Als 1962 die erste Veröffentlichung des Labels WERGO erschien - Schönbergs "Pierrot lunaire" mit der Domaine musicale unter Pierre Boulez -, war dies ein Wagnis, dessen Ausgang nicht abzusehen war. Werner Goldschmidt, ein Kunsthistoriker, Sammler und Enthusiast im besten Sinne, war es, der - gemeinsam mit dem Musikwissenschaftler Helmut Kirchmayer - den Grundstein zu dem Label legte, das seit inzwischen 50 Jahren zu den führenden Labels mit Musik unserer Zeit zählt. Mehr Info... |
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