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Montag, 2. Oktober 2023

Polish National Radio Symphony Orchestra spielt - Werke von Lutoslawski & Szymanowski

Polnische Meisterwerke


Label/Verlag: ACCENTUS Music
Detailinformationen zum besprochenen Titel


Alexander Liebreich setzt die famose Reihe des Polnischen Nationalen Radio Symphonieorchesters bei Accentus mit einer grandiosen Aufnahme zweier Werke von Szymanowski und Lutoslawski fort.

Das Polnische Nationale Radio Symphonie Orchester (NOSPR) hat mit seinem deutschen Chefdirigenten Alexander Liebreich zwei famose Werke des 20. Jahrhunderts von Witold Lutosławski ('Konzert für Orchester', 1954) und Karol Szymanowskis 'Drei Fragmente nach Gedichten von Jan Kasprowiecz' op. 5 (1902), eingespielt. Die genauen Titel der Gesänge lauten: 'Abendlied' (Błogosławioną niech będzie ta chwila), 'Ich bin und weine' (Jestem i płaczę) und 'Heiliger Herr' (Święty Boże). Das Ergebnis der Platte ist verblüffend gut. Die Solistin in den Liedern ist die stimmgewaltige polnische Altistin Ewa Podleś, deren Erscheinung der Aufnahme im zweiten Teil Gravität und Strahlkraft verleiht. Da hat das Leipziger Label Accentus eine hervorragende CD mit polnischer Musik vorgelegt.

Interessant und in Deutschland eine diskografische Rarität sind die 'Drei Fragmente nach Gedichten von Jan Kasprowicz' op. 5 von Karol Szymanowski. Diesen Liederzyklus, eigentlich für Gesang und Klavier, hat Grzegorz Fitelberg orchestriert. Karol Szymanowski komponierte ihn schon 1902. Der Meister des polnischen Impressionismus war da gerade einmal 20 Jahre alt. Als Vorlage dienten ihm Texte des polnischen Dichters Jan Kasprowicz (1860-1926). Dessen heroischer Gedichtzyklus aus älterer Zeit wurde im Jahr 1921 nochmals unter dem Titel ‚Hymnen‘ wiederveröffentlicht. Kasprowicz hatte Gymnasien in Ratibor und Posen besucht und studierte anschließend in Leipzig und Breslau Philologie und Philosophie. Ab 1908 wirkte er als Professor für vergleichende Literaturgeschichte an der Universität Lemberg und 1921/22 als deren Rektor. Der Titel ‚Hymnen‘ geht zurück auf Szymanowski, da er die Verse zum ersten Mal im Jahr 1928, nach dem Tod des Dichters, mit der Aufschrift ‚In Erinnerung an den großen Dichter Jan Kasprowicz‘ ausstellte. Es war ein Zeugnis der Gruppe ‚Junges Polen‘ (Młoda Polska), einer Richtung des Modernismus in der polnischen Literatur, Musik und Kunst, die grob zwischen 1890 und 1918 existierte und geprägt war durch Tendenzen der Dekadenz und durch Anleihen bei Neoromantik, Symbolismus, Impressionismus und Secession. Kasprowicz war einer ihrer verdienten Dichter, ‚eine Offenbarung von großer Poesie‘, wie Szymanowski sich ausdrückte.

In den ‚Hymnen‘ entdeckt auch der heutige Hörer die typisch dekadente Stimmung, voll geistiger Angst, Symbolik, Metaphysik, die hier mit Elementen der Volksreligion verwoben sind. Szymanowski gelang eine selten vernehmbare, konzise Komposition, deren Düsternis und Schrecken Ewa Podleś genial verkörpert. Ihr tiefes Timbre ist geradezu prädestiniert für diese Partie. Die mittlerweile 65-Jährige ist ihrem Format nach eine gestandene Opernsängerin, noch dazu von kosmopolitischem Geist. Sie gab 1984 ihr Debüt an der Met und wandelt seitdem über die Top-Bühnen dieser Welt. Die Liste ihrer CD-Aufnahmen reicht von Händels 'Ariodante' (DG), über Rossinis 'Tancredi' bis hin zu Prokofjews 'Alexander Newsky' (beide Naxos). Leider gibt es im Booklet keinen Abdruck der Liedtexte, geschweige denn irgendwelche deutsche Übersetzungen dazu. So lässt sich leider nicht verstehen, was gesungen wird. Auch die Biografien der Künstler sind nur auf Englisch, ein deutliches Manko.

Witold Lutosławski (1913-1994) zählt zu den renommiertesten Komponisten des 20. Jahrhunderts. Er ist einer der größten Komponisten (nicht nur) Polens. Seine Tonsprache ist universell, hat Nerv und Individualität. Das wissen wahrlich noch nicht alle Musikfreunde. Dass das NOSPR gerade eine Phase der internationalen Positionierung durchläuft, haben dagegen vielleicht schon mehr Interessierte mitbekommen, und so ist es ein kulturpolitisches Bekenntnis zur guten Nachbarschaftlichkeit, wenn mit Alexander Liebreich ein Deutscher seit fünf Jahren Chefdirigent in Kattowitz ist. Manche werden die Titelmusik des ZDF-Magazins (1969–1988) noch im Ohr haben. Sie entstammt dem ersten Satz ('Intrada') des 1950–1954 entstandenen 'Konzerts für Orchester' von Lutosławski, in welchem das betreffende Motiv nach etwa zwei Minuten erstmals erklingt. So modern, so atonal es wirkt, erscheint doch bereits 180 Jahre zuvor ein sehr ähnliches Motiv kurz in einem Werk von Carl Philipp Emanuel Bach, nämlich in dessen Hamburger Sinfonie Nr. 5 in h-Moll (Wq182 / H 661) wenige Takte nach Beginn des dritten Satzes. Das NOSPR eröffnet die dramatische 'Intrada' mit scharfer, zugleich sehr durchsichtiger Klanggebung (martialische Celli!) und zugleich frappierender Unerbittlichkeit. Dräuend repetierendes Schlagwerk und aufstrebende Streichermotive geben dem Satz ein rhythmisch-motorisches Gepräge. Das betreffende, eingangs erwähnte Motiv ist eigentlich eine Sequenz, die durch langes Aushalten einzelner Töne in eine Klangwolke mündet. Ein sensationeller Einfall, der sich tief einprägt und eine Art Visitenkarte des Stücks bildet. Blechbläserakzente klingen hier wie in der Barockmusik, sicher nicht ungewollt, ist doch die Form des Konzerts der barocken Dreiteiligkeit angelehnt. Holz- und Blech sind auf der Hut, die Intonation ist rein. Die Streicher brillieren mit sattem Sound und wendiger Aktion. Die Aufnahme ist zu Beginn klanglich noch direkter als die des NDR-Symphonie-Orchesters unter Krzysztof Urbański, deswegen die Bestnote für die Klangqualität, denn sowohl Balance als auch Dynamik stehen einem Live-Konzert in nichts nach. Der Satz klingt schön wie eine Hirtenmusik aus: Flöten, Solovioline und Klarinette zirkeln in kreisenden Phrasen, während höchste Frequenzen (künstliche Flageoletts der Violinen) über allem fiepen. Wie bei einem heißen Sommerabend auf dem Lande. So etwas hatte Bartók schon geschrieben.

Kontrastreich dazu ist der zweite Satz 'Capriccio notturno e arioso' aufgebaut. Hier huschen die Streicher, später die Holzbläser in schnellen Tonleitern auf und ab. Alles ist beim ersten Hören nicht zu greifen. Die unverhohlen gestreute moderne Akkordik erinnert eben an Bartók, auch an Strawinsky, manchmal an Schostakowitsch, doch bleibt Lutosławskis Tonsprache sehr originell. In jedem Fall ist die technische Realisierung für das Orchester eine Herausforderung, die es spielend bewältigt. Das NOSPR ist ein Garant für authentische Interpretation, dazu technisch wirklich auf der Höhe europäischer Spitzenorchester. Die Aufnahme wurde am 25./26. Juni 2014 in der Konzerthalle der Karol-Szymanowski-Musikakademie gemacht, denn das neue Konzerthaus war damals noch nicht eröffnet.

Der – im Vergleich zu den Sätzen 1 (7:15) und 2 (6:00) – überdimensionale letzte Satz des Orchesterkonzerts mit dem Titel 'Passacaglia, Toccata e Corale' verströmt ein besonderes Fluidum. Mit exakt fünfzehn Minuten ist es der weitaus längste Satz des Konzerts. Lange ‚pizzen‘ hier nur die Kontrabässe ein unheimliches Solo, das eigentlich nur das rhythmische Gerüst skizziert. Ravels 'La Valse' schwingt im Hintergrund als Ideengeber mit. Das Saxofon-solo wird hier solistisch unschlagbar geblasen, mit geheimnisvoll, lockendem Zug. Einerseits wird da ganz langsam eine Drohkulisse aufgebaut, die teils mit verstörenden Klängen, Unisono und überraschenden Akkordschlägen aufwartet. Andererseits gibt es auch fast statische Momente: Das bizarre Ende des ersten Teils in Flageolett-Tönen gelingt den Streichern wirklich exzeptionell.

Die Fortsetzung ist nichts für Liebhaber seichter Musik. Fortlaufend, im nächsten Teil – so ab Minute 5:50 – wird es bei wildem Getümmel fatalistisch, da geht die Post ab; wie ein Sog rufen Trompetenfanfaren zum letzten Gericht. Überhaupt sind die Tempi spritzig unter Liebreichs Leitung. Er findet immerzu den richtigen Dreh. Dann grüßen die Streicher musikalisch Dmitri Schostakowitsch (D.Es.C.H.), immer rauschender quellen die Klänge auf, die sich in bestechender Klarheit abbilden. Lutosławski absolvierte ein mathematisch-naturwissenschaftliches Studium. Musik und Mathe waren für ihn Freunde und da fand er gemeinsame Bezugspunkte, was nicht folgenlos für seine Kompositionstechnik blieb, wie der Hörer sich hier überzeugen kann. Dieser Satz ist unverkennbar durchstrukturiert und baut vielleicht unbewusst auf Zahlenreihen auf. Die Wirkung ist fantastisch bis galaktisch. Da schallt es final wie beim ‚Krieg der Sterne‘.

Witold Lutosławski war die ideologische Prägung der westlichen Nachkriegsavantgarde suspekt. Trotzdem schrieb er auf der Höhe der Zeit: Avanciert in seinen Techniken, streng in der Organisation und zugleich der Ästhetik und Magie seiner Klänge verpflichtet, heißt es in einer Lutosławski-Biografie. Er war Wegbereiter der Avantgarde in Polen und visionärer Doyen des Festivals Warschauer Herbst. Er starb hoch geachtet und mit Auszeichnungen dekoriert1994 in Warschau. Das Werk Lutosławskis verdient es, sich näher mit ihm auseinanderzusetzen. Diese Aufnahme bietet dafür den besten Anlass.

Interpretation:
Klangqualität:
Repertoirewert: 
Booklet:






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Detail-Informationen zum vorliegenden Titel:



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    Polish National Radio Symphony Orchestra spielt: Werke von Lutoslawski & Szymanowski

Label:
Anzahl Medien:
Veröffentlichung:
ACCENTUS Music
1
16.01.2015
Medium:
EAN:

CD
4260234830811


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ACCENTUS Music

ACCENTUS Music wurde 2010 als Produktionsfirma mit einem sehr erfahrenen Team aus Produzenten, Regisseuren, Kameraleuten, Tonmeistern und Cuttern und als gleichnamiges DVD Label auf dem Klassikmarkt gegründet. Die Firma mit Sitz in der Musikstadt Leipzig, unweit der Thomaskirche, produziert weltweit erstklassige Konzertereignisse, Opern sowie Künstlerportraits und Dokumentarfilme. Auf den DVD- und Blu-ray Veröffentlichungen finden sich herausragende Künstler wie Claudio Abbado, Daniel Barenboim, Evgeny Kissin, Martha Argerich, Riccardo Chailly, Pierre Boulez, Joshua Bell, Lucerne Festival Orchestra, New York Philharmonic und das Simón Bolívar Jugendorchester. ACCENTUS Music erfüllt sowohl künstlerisch wie auch technisch höchste Ansprüche von Klassik-Liebhabern rund um den Globus.


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Von Manuel Stangorra zu dieser Rezension empfohlene Kritiken:

  • Zur Kritik... Extravagante Avantgarde: Diese Einspielung mit Werken von Szymanowski und Lutoslawski ist in der orchestralen Ausführung schlichtweg brillant. Weiter...
    (Manuel Stangorra, 06.01.2017)

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