
Rütti, Carl - Sinfonie 'The Visions of Niklaus von Flüe'
Postmodern oder eklektisch?
Label/Verlag: Guild
Detailinformationen zum besprochenen Titel
Die hier versammelten Werke von Carl Rütti und Caspar Diethelm fügen sich nicht bruchlos zusammen, haben aber doch ein paar Querverbindungen. Die musikalische Umsetzung ist weitgehend tadellos.
Viele sogenannte Musikkenner schauen mit Verachtung auf tonal komponierende Tonsetzer der Gegenwart. Dabei verlieren sie aus den Augen, dass das eigentlich Wesentliche nicht der Grad der Modernität ist, sondern ob die Musik dem interessierten Hörer etwas zu sagen hat. Wer prinzipiell nur das Eine hören will, hat kein offenes Ohr für jenes, das eben doch nicht ganz so naheliegend ist, das einen durchaus eigenen Zugang erfordert, aber vielleicht auf den ersten Blick so bescheiden wirken mag, dass es für bieder und altbacken angesehen wird. Für gewöhnlich besagt dies aber mehr über den Hörer (oder Nicht-Hörer) als über die Musik selbst.
Carl Rütti ist ein Komponist, der als essenzieller Orgelkomponist nie das harmonische Fundament der Vergangenheit blind über Bord geworfen hat. Die bei Guild erscheinende Reihe mit seinen Kompositionen hat schon eine ganze Anzahl echter Schätze zum Vorschein gebracht, die aber – nicht zuletzt durch die ‚Anrüchigkeit’, es handele sich um einen Schweizer Komponisten, den man ja nicht kennt – noch immer viel zu unbekannt geblieben sind (immerhin hat ihn Naxos mit der Veröffentlichung seines Requiem gewürdigt). Die Sinfonie 'Die Visionen des Niklaus von Flüe' für Sopran, Orgel, Schlagwerk und Streicher entstand 2013 – und dies mag irritieren, sind doch nicht wenige der eröffnenden Orgelklänge verwandt mit Kompositionen Olivier Messiaens, ehe der Komponist sich wieder ganz seiner eigenen Klangwelt zuwendet.
'Die Visionen des Niklaus von Flüe' sind in Mittelhochdeutsch vertont, einer Sprache, die in ihrer Archaik dem Schweizerdeutsch verwandt ist. Doch verzichtet Rütti auf jedwede Art äußere Assoziierung mit dem Mystiker aus dem 15. Jahrhundert, er wählt vielmehr eine teilweise der Minimal Music verwandte, stark melodiegeprägte und farbenreiche Klangsprache, mit der er die Visionen des Landespatrons der Schweiz in die Gegenwart transportiert. Dass er dabei die Rezeption nicht leicht macht, ist bedingt durch die Wahl einer Solosopranistin, die die Texte in eher hohen Registern vorträgt. Hierdurch transzendiert er gleichsam die Texte, die man vor dem Hören der Musik gelesen haben sollte.
Insgesamt hat die Komposition eine durchaus eigene Form. Ihre sieben Sätze sind architektonisch miteinander verbunden bzw. aufeinander bezogen; vier längeren Sätzen mit vokalem Anteil stehen drei rein orchestrale Sätze gegenüber. Doch stimmt das nicht ganz – in der vorliegenden Interpretation behandelt Maria C. Schmid den Vokalpart durchaus nicht uninstrumental (will heißen: Textverständnis ist nicht von zentraler Bedeutung). Das bewirkt zwar herrliche Klangmischungen und meditative Stimmung, doch dem Verständnis des Wortsinns der Komposition ist es nicht zuträglich. Das bedaure ich, bieten doch der Organist Martin Heini, der Schlagzeuger Mario Schubiger und das staatliche Philharmonische Kammerorchester Novosibirsk unter der Leitung Rainer Helds insgesamt eine ausgesprochen runde Gesamtleistung. Doch mag diese ‚instrumentale’ Qualität des Vokalparts durchaus in die Komposition mit eingedacht sein – und wenn dem so ist, haben wir hier eine kongeniale Interpretation des gut einstündigen Werks vorliegen.
Quasi als Bonus finden sich auf der nur äußerst schwach gefüllten zweiten CD drei Kompositionen des Schweizer Komponisten Caspar Diethelm (1926–1997) für Streichorchester. Held und die Musiker aus Novosibirsk haben schon früher gezeigt, dass sie auch unbekannter Musik klangwarmes und gleichzeitig scharf profiliertes Leben einhauchen können, doch fragt sich der Hörer, ob die Beigabe von Werken Diethelms hier am rechten Platz ist. Diethelms Passacaglia op. 324 für Streicher 'Eine weiße Christrose auf dem kleinen Grab' (1996) ist im direkten Vergleich zu Rüttis Werk deutlich retrospektiver, weist auf Komponisten wie Frank Martin und andere. Der tiefe Ernst der Komposition steht außer Frage (die Komposition ist eine Meditation über das Grab der Tochter des Komponisten), auch eine gewisse expressive Komponente, die den Hörer in eine gänzlich andere Welt führt als bei Rütti. Held nutzt, zusammen mit Aufnahmeleiter Michael Ponder, die Akustik der Aufnahmelocation, der Pfarrkirche St. Katharina in Horw, zum Vorteil der Kompositionen. Gleichwohl bleibt die Passacaglia gewissermaßen Stückwerk. Dort, wo der Hörer den Eindruck gewinnen könnte, dass jetzt der Hauptteil der Komposition beginnt (nach den Streichersoli gegen Ende), ist das Stück schon zu Ende. In sich runder, aber auch weniger von eigener Persönlichkeit erfüllt, ‚internationaler’ scheint 'Consolatio' op. 324a, eine Komposition, die deutlich lichtdurchfluteter ist als die Passacaglia. Diethelms letzte Komposition für Streichorchester sind die umfänglichen '12 Segmente' mit dem Titel 'Now the path completes the circle' op. 338, wie ein Abgesang von der Welt, mit Anklängen auf Musik, die bereits fast siebzig Jahre zuvor entstanden ist, zu Zeiten der Kindheit des Komponisten; dieser eigenartige Charakter ist schwer zu fassen – im Grunde müsste man gleichzeitig den Klang schärfen und dennoch die Serenität der Musik strömen lassen (insofern erweisen sich Rüttis und Diethelms Kompositionen nunmehr doch einander innerlich verbunden).
Leider sind die Bookleteinlassungen derart persönlich gefärbt, dass sie nur teilweise der Musik wirklich zum Nutzen geraten, so dass bei mir zumindest ein etwas zwiespältiger Eindruck zurückbleibt. Ich denke, ich hätte lieber zwei separate CDs gehabt, die so beide noch mehr eigenständiges Profil hätten entwickeln können. Was aber nichts an der Bedeutung der Produktion selbst mindern soll.
Interpretation: Klangqualität: Repertoirewert: Booklet: |
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Detail-Informationen zum vorliegenden Titel:
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Rütti, Carl: Sinfonie 'The Visions of Niklaus von Flüe' |
|||
Label: Anzahl Medien: Veröffentlichung: |
Guild 2 29.10.2014 |
Medium:
EAN: BestellNr.: |
CD
795754740721 GMCD 7407/2 |
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Guild Guild entstand in den frühen Achtzigerjahren auf Initiative des berühmten englischen Chorleiters Barry Rose, der den St Paul's Cathedral Choir in London leitete. Der Name hat nichts mit der nahe gelegenen Londoner Guild Hall zu tun, sondern kommt von Barry Roses erstem Chor, dem Guildford Cathedral Choir. Das frühere Logo (ein grosses G) entstand indem Barry Rose kurzerhand eine Teetasse umstülpte und mit einem Bleistift ihrem Rand bis zum Henkel entlang fuhr. Seit 2002 hat die Firma als Guild GmbH ihren Sitz in der Schweiz, in Ramsen bei Stein am Rhein. Mehr Info... |
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