
Haydn - Klaviersonaten
Drastischer Ausdruck statt klassischer Ausgeglichenheit
Label/Verlag: Alpha Classics
Detailinformationen zum besprochenen Titel
Bobby Mitchell begreift Haydns Klaviermusik aus der Tradition rhetorisch fundierter Affektdarstellung und spitzt die Ausdrucksgesten energisch zu. Ihm geht es um Lebendigkeit der Darstellung, nicht um Notentreue - zum Glück!
Seit mehreren Jahrzehnten befruchten sich auf dem Gebiet historisch informierter Aufführungspraxis Forschung und Praxis. Mal kamen Anregungen und Anstöße vonseiten der Wissenschaft und führten zu erstaunlichen Entwicklungen im Bereich der Musikpraxis, mal andersherum. Als zahlreiche Musiker in den 1980er Jahren die Grenzen des Repertoires, das unter den Vorzeichen eines historisch orientierten Aufführungsideals neu zu deuten sie sich anschickten, immer weiter in Richtung 19. Jahrhundert verschoben, war es nicht selten so, dass die Praxis ausprobierte und kühn vorausgaloppierte, ohne sich auf ein hinreichendes Fundament historischer Forschung stützen zu können. Aber auch das Gegenteil ist nicht selten: Was von wissenschaftlicher Seite sorgfältig recherchiert wurde, blieb auf die Praxis in vielen Punkten ohne Auswirkungen. Da fehlte es auf Musikerseite oft an Experimentierlust und Wagemut.
Umso erfreulicher ist es, wenn ein junger Pianist Risiken eingeht und eine hochindividuelle Deutung zur Diskussion stellt, die aufführungspraktische Elemente und interpretationsästhetische Konventionen der Werkentstehungszeit furchtlos in die Gegenwart trägt. Die Rede ist von Bobby Mitchells reizvoller Einspielung einiger Klavierwerke von Joseph Haydn, erschienen beim französischen Label Alpha. Mitchell greift die bis ins 19. Jahrhundert übliche Praxis auf, bei einem Bühnenvortrag Werke durch improvisierte Zwischenspiele miteinander zu verbinden. Das ist das auffälligste Merkmal, das beim ersten Hören und einem Blick auf die Tracklist der auch klanglich sehr detailreichen Aufnahme im Vordergrund steht. Weitaus interessanter sind freilich die unzähligen ‚Kleinheitsschönheiten‘, wie es im ästhetischen Jargon der Zeit heißt, die einem hier auf Schritt und Tritt begegnen. Sie liegen etwa in idiomatisch gestalteten Verzierungen bei Reprisen und improvisatorischen Ausschmückungen von Fermaten. So hebt Mitchell etwa im 'Andante con variazioni' f-Moll (Hob. XVII:6) wenige Takte vor der Schlusswendung zu einer ebenso ausladenden wie packenden Improvisation an, wodurch die Nähe zu den eigenwillig-wilden Klavierphantasien der Zeit herausgestrichen wird.
Auch in den anderen Werken dieser hochspannenden Einspielung, den Sonaten F-Dur (Hob. XVI:23), Es-Dur (Hob. XVI:28), C-Dur (Hob. XVI:48) sowie dem 'Adagio' F-Dur (Hob. XVII:6), atmet Mitchells Spiel auf dem Hammerklavier süddeutscher Provenienz aus dem späten 18. Jahrhundert den Geist frei phantasierender Ausdrucksdrastik. Der Erwartung klassischer Ausgewogenheit als angemessene Stilistik der Wiedergabe von Werken des späten 18. Jahrhunderts stellt Bobby Mitchell eine kleinteilig angelegte Interpretation entgegen, die den Notentext als Aufforderung zu expressivem Handeln auffasst. So werden Motive, Gesten, melodische Prägungen, harmonische Situationen, dynamische Kontraste in der Tradition rhetorischer Figuren wahrgenommen und dementsprechend ausdruckssatt dargestellt. Die Folge ist ein in bestem Sinn zerrissenes Musizieren, das den musikalischen Puls je nach ausgestellter Empfindung vorantreibt oder zurückhält und auf engstem Raum Kontraste wirkungsvoll hervorhebt, etwa in der Exposition des eröffnenden 'Allegro moderato' der Sonate Es-Dur mit ihren kleinteilig angelegten Stimmungsgegensätzen.
Bobby Mitchel verlässt im Dienste der Affektprägnanz schon mal die Grenzen des ‚schönen Spiels‘, wenn er rüde dazwischenfahrende Basssprünge energisch herausmeißelt. Er geht aber in gleichem Maß auch feinsinnig zu Werke, schattiert den Klang des historischen Hammerklaviers Wiener Bauart und setzt die spezifischen Möglichkeiten des Instruments, etwa die Farbnuancen der Dämpfungen, sehr gekonnt ein. So wird Bobby Mitchell dem gesamten Ausdrucksspektrum dieser vielgestaltigen Musik gerecht, mehr noch: Er spielt die Gegensätze voll aus, aber auch die feineren Zwischentöne geraten ihm nicht aus dem Blick. Das macht diese Aufnahme ungeheuer spannend – auch wenn die Bühnenpraxis improvisierter Werküberleitungen auf einem Tonträger durch die potentiell unendliche Wiederholbarkeit fast Werkcharakter gewinnt und somit von ihrer ursprünglichen Funktion im Hier und Jetzt einer Live-Aufführung denkbar weit entfernt ist.
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Detail-Informationen zum vorliegenden Titel:
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Haydn: Klaviersonaten |
|||
Label: Anzahl Medien: Veröffentlichung: |
Alpha Classics 1 04.07.2014 |
Medium:
EAN: |
CD
3760014191961 |
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Alpha Classics "Haute-Couture-Label", "Orchidee im Brachland der Klassikbranche" oder schlicht "Wunder", das sind die Titel mit denen das französische Label ALPHA von der Fachpresse hierzulande bedacht wird. In der Tat ist die Erfolgsgeschichte des Labels ein kleines Wunder. Honoriert wurde hiermit die Pionierlust und Entdeckerfreude des Gründers Jean-Paul Combet und die außerordentliche Qualität seiner Künstler und Ensembles (z.B. Vincent Dumestre, Marco Beasley, Christina Pluhar u.v.a.), aber auch die auffallend schöne, geschmackvolle Präsentation der Serie "ut pictura musica" mit ihren inzwischen mehr als 200 Titeln. Das schwarze Front-Layout und die Grundierung mit venezianischem Papier im Innern sind mittlerweile genauso zum Markenzeichen geworden wie die ausgesprochen stimmungsvollen Fotografien der Aufnahmesitzungen durch den Fotografen Robin Davies. Das Programm umfasst die Zeitspanne von der mittelalterlichen Notre Dame-Schule bis hin zur klassischen Moderne, doch ist nach wie vor ein deutlicher Schwerpunkt auf Alte Musik zu erkennen. Innerhalb des Labels möchte die zweite, auch "Weiße Reihe" genannte, Serie "Les Chants de la terre" die ältesten Quellen musikalischen Ausdrucks erkunden. Mit Virtuosität und Spielfreude widmet man sich hier dem Beziehungsfeld von schriftlich überlieferten und mündlich weitergegebenen Musiktraditionen, um alte Melodien zu neuem Leben zu erwecken. Trotz akribischer musikwissenschaftlicher Recherche geht es hier nicht um eindimensionale, akademisch trockene Werktreue, sondern um lebendigen Umgang mit altem Material. Mehr Info... |
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