
Alphons Diepenbrock - Orchesterlieder
Emotionalisiert
Label/Verlag: cpo
Detailinformationen zum besprochenen Titel
Alphons Diepenbrocks Orchesterlieder sind eine diskographische Rarität. Der Bariton Hans Christoph Begemann nähert sich ihnen aber mit etwas zu viel emotionalem Nachdruck und neigt dazu, die Musik zu überfrachten.
Alphons Diepenbrock (1862–1921) ist auf Tonträger seit langem kein Unbekannter mehr, nicht zuletzt weil sich unter anderen Willem van Otterloo, Riccardo Chailly und Hans Vonk als Dirigenten für ihn eingesetzt haben. Obschon kein professioneller Musiker (er war Gelehrter und sein Hauptberuf war zeitlebens der Privatunterricht von Lateinisch und Griechisch), ist sein kompositorisches Schaffen durchaus beachtlich. Vor allem schuf Diepenbrock Vokalmusik sowohl für Solo wie für Chor, aber auch Schauspielmusik und wenig Instrumentalmusik. Diepenbrocks Kompositionsstil ist ausgesprochen diatonisch geprägt, mit gelegentlichen chromatischen Ausbrüchen, die dann umso stärker wirken, vor allem aber mit hochinteressanten Klangfarben, die dem Stil des Symbolismus näher stehen als etwa dem Impressionismus.
Die hier vorgestellten fünf Sologesänge entstanden in den Jahren 1898–1907. Novalis, Goethe und Heine einerseits und Nietzsche und Verlaine andererseits zog Diepenbrock als Textvorlagen heran. Häufig nennt er explizit eine Stimmlage, bei der 'Hymne an die Nacht' von Novalis (1899) etwa die Altstimme (so auch eingespielt u.a. mit Linda Finnie unter Hans Vonk und mit Nathalie Stutzmann unter Riccardo Chailly). Der Bariton Hans Christoph Begemann (Leiter der Vokalklasse an der Musikhochschule Mainz) erfüllt die symbolistische Komposition mit emphatischer Gestaltung, die vielleicht des Ausdrucks etwas zu viel bietet. Auch Otto Tausk, Leiter des Sinfonieorchesters St. Gallen seit 2012, als Niederländer mit Diepenbrock Schaffen sicher vertraut, verfolgt einen stärker symbolistischen interpretatorischen Zugang – d.h. er hebt die transzendentale Ausdrucksebene der Musik besonders hervor. Dies schärft das Profil der Musik, die stärker in der Richtung Zemlinskys oder ähnlicher verortet wird, doch funktioniert durch Begemanns ‚gesunden’, geradlinigen lyrischen Bariton diese Interpretation nur bedingt; hier hätte man sich eine (oder mehrere) Stimme(n) gewünscht, die das erforderliche Profil genuiner hätten mittragen können. So gerät das Ganze etwas zum Pathetischen, Emotionalisierten, ohne auf allen Ebenen zu überzeugen.
Unverständlich bleibt, warum dieser Hymne an die Nacht Nr. 2 nicht die Hymne Nr. 1 ('Gehoben ist der Stein') zur Seite gestellt wurde (anderswo erhältlich mit Arleen Augér), noch die Hymne Nr. 3 ('Vondel‘s vaart naar Agrippine'). So bleibt das Konzept der CD leider ein äußerst loses – von den großen Orchestergesängen werden nur zwei geboten, dazu drei kleine orchestrierte Lieder, die für Diepenbrocks Schaffen keineswegs die repräsentativsten sind. 'Der König in Thule', 1886/9 entstanden, 1907 orchestriert und 1918 einer Schauspielmusik des ‚Faust’ integriert, wird hier entkontextualisiert und dem Bariton übertragen. Opernhaft kommt das Lied hier daher, ebenfalls emphatisch stark aufgeladen. Heines kurzes 'Es war ein alter König' (1890, rev. 1902, Jahr der Orchestrierung hier nicht genannt, vermutlich ebenfalls 1907), musikalisch überraschend dem 'König in Thule' verwandt, und Verlaines 'En sourdine' erscheinen in der Interpretation durch Begemann und Tausk eher entemotionalisiert, der Solist scheint die Worte mehr zu liebkosen statt in ihrer Tiefe auszudeuten.
Den substanziellen Gegenpart zur 'Hymne an die Nacht' bildet hier 'Im großen Schweigen' nach Nietzsche (1905), in der Diepenbrock Nietzsche mittels des katholischen Hymnus 'Ave maris stella' transzendiert. Die Komposition (u.a. durch Robert Holl unter Hans Vonk und durch Håkan Hagegård unter Riccardo Chailly eingespielt) zitiert zwar am Rande Diepenbrocks Freund Gustav Mahler, doch bleibt die Komposition doch ganz Diepenbrocks. Abermals ist Begemanns emotionaler Zugriff teilweise eher störend als unterstützend: Der Wille zur Bedeutsamkeit verlässt sich nicht auf die Musik, sondern versucht diese zu unterstützen – was nicht notwendig wäre. Es gibt viele herrliche vokale Momente, die aber nicht zu einer runden Gesamtinterpretation führen. Schlussendlich verschenkt Begemann sein wunderbares Material durch zu starkes Wollen und zu wenig Vertrauen auf die eigene Stimme und die Kraft der Musik.
Ergänzt werden die Gesänge durch die orchestrale Hymne für Orchester (1898/9), im Grunde ein orchestraler ‚Gesang ohne Worte’ (von ‚Lied ohne Worte’ kann man des Umfangs wegen nicht sprechen). Die heroische, die große Geste bietende Komposition zeigt einen Meister auch der absolut-musikalischen Form. Der volle Reiz der Komposition kommt nicht zuletzt durch die kluge architektonische Anlage durch Otto Tausk voll zum Vorschein, der nicht nur (wie dies bis nach 1945 üblich war) das Orchester in europäischer Orchestersitzordnung spielen lässt (d.h. erste und zweite Violinen quasi antiphonal einander gegenüber zu beiden Seiten des Dirigenten), was dem klug gestaffelten Orchesterklang eine Ausgewogenheit gibt, die der Musik gut bekommt. Diverse Instrumentalsoli sind in den Orchestergesängen nicht so gerundet wie bei anderen Orchestern, die Mischung von kammermusikalischem und chorischem Musizieren funktioniert häufig nicht ganz bruchlos; so bleibt die Leistung der St. Gallener insgesamt eine solide oder beachtliche, aber keine exzeptionelle. Diesem musikalischen Ergebnis entspricht leider auch das Booklet, das (einige Druckfehler hier einmal beiseite gelassen) ebenfalls nicht wie aus einem Guss scheint. Ein paar Passagen geraten zu ausgesprochen subjektiven Einlassungen zu Leben und Schaffen Diepenbrocks, die dem Verständnis der Entstehung der Kompositionen nicht wirklich förderlich sind.
Interpretation: Klangqualität: Repertoirewert: Booklet: |
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Detail-Informationen zum vorliegenden Titel:
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Alphons Diepenbrock: Orchesterlieder |
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Label: Anzahl Medien: Veröffentlichung: |
cpo 1 20.08.2014 |
Medium:
EAN: |
CD
761203783625 |
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Diepenbrock, Alphons |
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cpo Wohl kaum ein zweites Label hat in letzter Zeit soviel internationale Aufmerksamkeit erregt wie cpo. Die Fachwelt rühmt einhellig eine überzeugende Repertoirekonzeption, die auf hohem künstlerischen Niveau verwirklicht wird und in den Booklets eine geradezu beispielhafte Dokumentation erfährt. Der Höhepunkt dieser allgemeinen Anerkennung war sicherlich die Verleihung des "Cannes Classical Award" für das beste Label (weltweit!) auf der MIDEM im Januar 1995 und gerade wurde cpo der niedersächsische Musikpreis 2003 in "Würdigung der schöpferischen Leistungen" zuerkannt.
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