> > > Stokowski, Leopold dirigiert: Werke von Amirov, Shostakovich, Williams u. a.
Samstag, 23. September 2023

Stokowski, Leopold dirigiert - Werke von Amirov, Shostakovich, Williams u. a.

Intensiv warmherzig


Label/Verlag: Guild
Detailinformationen zum besprochenen Titel


Diese historischen Klangdokumente zeigen Stokowski als feinfüligen Dirigenten, der Strukturen und Klangfarben der seinerzeit moderne Musik akribisch bis ins Detail ausleuchtet.

Gerne wird Leopold Stokowski (1882–1977) als ‚Effekt-Dirigent’ abgetan, weil er ab einer bestimmten Phase in seinem Leben alle Möglichkeiten, das Klangliche der Musik voll zur Geltung zu bringen, aus vollem Herzen auslotete – teilweise auch zu Lasten des Komponierten selbst. Andere Dirigenten haben ähnliches vor ihm getan, vorgeblich aus edleren Gründen: Gustav Mahler, Max Reger und Benjamin Britten haben teilweise radikal in heute unretuschiert aufgeführte Werke eingegriffen, von der verwirrenden Lage in Sachen Bruckner-Sinfonien gar nicht zu sprechen. Dieser Ruf, der aber nur Stokowski bis heute besonders negativ nachhängt (obwohl seine Brahms- oder Mahler-Interpretationen aus den 1970er-Jahren keineswegs zum Schlechtesten der Diskografie gehören), war bis vor Beginn der Stereoära nicht gerechtfertigt – historische Aufnahmen beweisen, dass Klangfarbe für ihn keineswegs alles war.

Die hier vorliegenden Mitschnitte aus zwei Konzerten mit dem Philharmonic-Symphony Orchestra of New York (so heißt das New York Philharmonic offiziell) vom 5. März 1960 und 3. März 1962 beweisen ein weiteres Mal, das neben dem Interesse am Sound einer Komposition oder eines Komponisten auch andere Parameter für Stokowski zentral waren. Zu oft wird vergessen, dass Stokowski Uraufführungen u.a. von Varèse, Ives, Schönberg und Rachmaninoff dirigierte und überhaupt ein bedeutender Interpret der damals ganz modernen Musik war. Die vorliegende CD bietet ausschließlich Musik des 20. Jahrhunderts – die Zusammenarbeit oder das Feedback lebender Komponisten inspirierte den Dirigenten zu seinen besten Leistungen.

Fikret Amirov (1922–1984) war einer jener Komponisten, die Stokowski wegen der Verbindung von starken rhythmischen Impulsen und exotischen Klangfarben (man könnte von einem sowjetischen Villa-Lobos sprechen) eine Zeitlang regelmäßig programmierte. Die Symphonische Suite über aserbaidschanische Themen entstand 1950 und erlebte 1960 unter Stokowski ihre amerikanische Erstaufführung. Aserbaidschan hatte sich erst wenige Jahrzehnte zuvor westlicher Musik geöffnet, Amirov gehörte zu den ersten international erfolgreichen Komponisten des Landes. Die viersätzige Suite zeichnet sich durch distinkte Themengestaltung aus Volksgut und eine ganz eigenartige Farbenpracht aus, die Stokowski unmittelbar ansprach. Die New Yorker Musiker haben hörbar Freude an der Musik, sind musikalisch warmherzig, inspiriert und präzise.

Dmitri Schostakowitschs Erste Sinfonie f-Moll op. 10 aus den Jahren 1924/5 hatte Stokowski schon zweimal eingespielt (1933 und 1958), ehe der hier vorliegende Konzertmitschnitt entstand. Das heißt, er kannte die Komposition in- und auswendig, als er mit dem Werk 1960 vor dem New Yorker Publikum gastierte. Seine hier vorliegende Lesart ist voller Lebendigkeit und Verve; er lotet herrlich die Tiefen der Komposition aus, nicht ohne den ihr ebenfalls innewohnenden Humor auszukosten. Die Instrumentation leuchtet in warmen Farben, obwohl die hohen Streicher ein wenig zurückgenommen aufgenommen scheinen. Dafür dröhnen die tiefen Streicher etwas zu stark, doch insgesamt ist das Klangbild für einen Mono-Konzertmitschnitt durchaus akzeptabel. Keinen Moment verschwendet der Hörer an die Frage, was für Quellmaterial der Überspielung zugrunde gelegen haben mag, und das ist das höchste Kompliment, das man der Tontechnik (Peter Reynolds) machen kann.

Der amerikanische Komponist Robert Kurka (geb. 1921) starb 1957 erst sechsundreißigjährig an Leukämie, sein 'Julius Caesar – Symphonic Epilogue after Shakespeare’s Play' op. 28 entstand zwei Jahre zuvor. Die Partitur ist Schostakowitschs 'Hamlet'-Filmmusik (1964) teilweise überraschend verwandt, sowohl was die musikalische Faktur als auch was die Instrumentation angeht. Ein effektvolles Stück, das Stokowski mit der bei ihm üblichen Freude bis ins kleinste Detail klangfreudig erkundet. Ralph Vaughan Williams’ 'Fantasia on a Theme of Thomas Tallis' (1910, rev. 1913 & 1919) für doppeltes Streichorchester hatte Stokowski erstmals 1952 in New York im Studio eingespielt, zuletzt 1975 mit dem Royal Philharmonic Orchestra in London. Hier ist die Streicherbalance perfekt, Stokowski findet genau den richtigen Ton zwischen tiefer Devotion und Intensität; kleine Unpräzisheiten stören den Gesamteindruck höchstens unwesentlich. Stokowski erweist sich hier einmal mehr als mindestens so Vaughan Williams-affin wie Koryphäen wie Sir Adrian Boult oder Sir Malcolm Sargent.

Robert Matthew-Walkers ausführliche Bookletnotizen (nur auf Englisch) erhellen den Hintergrund der Einspielungen – höchstens mit Blick auf die Einordnung in Stokowskis Diskografie hätte man sich noch zwei, drei zusätzliche Sätze wünschen können. Doch ist das wirklich nebensächlich mit Blick auf eine derart erfreuliche, rundum empfehlenswerte Produktion.

Interpretation:
Klangqualität:
Repertoirewert: 
Booklet:





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Detail-Informationen zum vorliegenden Titel:



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    Stokowski, Leopold dirigiert: Werke von Amirov, Shostakovich, Williams u. a.

Label:
Anzahl Medien:
Veröffentlichung:
Guild
1
20.08.2014
Medium:
EAN:

CD
795754241525


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Guild

Guild entstand in den frühen Achtzigerjahren auf Initiative des berühmten englischen Chorleiters Barry Rose, der den St Paul's Cathedral Choir in London leitete. Der Name hat nichts mit der nahe gelegenen Londoner Guild Hall zu tun, sondern kommt von Barry Roses erstem Chor, dem Guildford Cathedral Choir. Das frühere Logo (ein grosses G) entstand indem Barry Rose kurzerhand eine Teetasse umstülpte und mit einem Bleistift ihrem Rand bis zum Henkel entlang fuhr. Seit 2002 hat die Firma als Guild GmbH ihren Sitz in der Schweiz, in Ramsen bei Stein am Rhein.
Bei den Aufnahmen arbeiten wir mit Fachleuten zusammen, die für grosse internationale Firmen und unabhängige kleinere und grössere Labels tätig sind. Unsere Programmschwerpunkte sind Welt-Erstaufnahmen, vergessene Werke bekannter Meister, noch nicht entdeckte Komponisten und Schweizer Musiker sowie historische Aufnahmen, etwa die Toscanini Legacy und Mitschnitte der Metropolitan Opera New York.
Wir arbeiten intensiv mit der Zentralbibliothek in Zürich und mit der Allgemeinen Musikgesellschaft Zürich zusammen, produzieren CDs mit Chören wie dem Salisbury Cathedral Choir und den Chören der Cambridge und Oxford University - und als Steckenpferd pflegen wir die grossen englischen und amerikanischen Unterhaltungsorchester mit ihren Light-Music-Hits der Dreissiger- bis Fünfzigerjahre.


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