
Reger, Max - The Britannic Organ Vol. 8
Reger 2.0
Label/Verlag: OehmsClassics
Detailinformationen zum besprochenen Titel
Jeder, der sich für den Orgelkomponisten Reger interessiert, wird an dieser Veröffentlichung nicht vorbeikommen.
Seit fast fünfzehn Jahren habe ich mich nunmehr beruflich immer wieder mit den Welte-Rollen, die Max Reger einspielte, auseinandersetzen dürfen. Zunächst standen die Welte-Mignon-Rollen im Fokus, die mehrfach in Konzertveranstaltungen im Augustinermuseum Freiburg zum Erklingen gebracht wurden. 2005 erfolgte die Veröffentlichung der Neuüberspielung sämtlicher Rollen (nebst den Telemann-Variationen durch die Uraufführungsinterpretin) beim Label Tacet. Nun endlich also Reger auf Welte-Philharmonie, auf eben jener Orgel, auf der bereits seit den frühen 1960er-Jahren die Reger-Rollen für die Schallplatte aufgenommen worden waren. Wenig glamourös fanden die ersten Überspielungen (für Electrola) damals in Wipperfürth statt, und von der Kritik wurden sie immer wieder angefeindet wegen augenscheinlicher oder offenkundiger Mängel. So wichtig die Klangdokumente waren, so problematisch war die Überlieferung, die technische Reproduzierbarkeit der ‚Vorläufer der digitalen Aufnahmetechnik’ auf Lochstreifen. Ein Forschungsprojekt der Fachhochschule Bern ermöglicht es nun, die Welte-Rollen zu digitalisieren, um so die optimale Präsentationsmöglichkeit zu gewährleisten. Es gab, so berichtet das ausführliche Booklet, Probleme der Aufzeichnung des Pedalspiels, und in der nun vorliegenden Produktion kann durch die Möglichkeiten der digitalen Edition Regers Spiel erstmals ‚weitaus originalgetreuer reproduziert werden als bisher möglich’.
Das Wiedergabeinstrument – dies ist schon mehrfach betont worden – entstand für die Britannic, ein Schwesterschiff der Titanic. Während die Orgel für die Titanic nicht rechtzeitig fertig wurde und so vor dem Untergang bewahrt blieb (heute befindet sie sich im Deutsches Musikautomaten Museum Bruchsal), war die Orgel der Britannic bereits eingebaut, wurde aber vor ersten Einsätzen als Hospitalschiff im Ersten Weltkrieg wieder entnommen. Um 1920 gelangte die Orgel in den Besitz des Stuttgarter Fabrikanten August Nagel und wurde 1937 in Wipperfürth im Versammlungs- und Konzertsaal der Firma RADIUM AG aufgestellt. Ende der 1960er-Jahre wurde die Orgel an den Schweizer Heinrich Weiss, den Gründer der Musikautomaten-Sammlung in Seewen erworben. Umfangreiche Restaurierungsarbeiten erhellten erst 2007 die frühe Historie der Orgel.
Obschon er im Konzert nach seinem Studium nur noch ganz selten (etwa im Urlaub) oder als Begleiter von Sängern in Erscheinung trat (er war also nicht, wie das Booklet behauptet, ein veritabler Organist wie viele seiner Zeitgenossen, die von Welte aufgenommen wurden), hat Reger am 28. Mai 1913 insgesamt sechzehn Rollen auf Welte-Philharmonie eingespielt. Mehrere dieser Rollen waren bislang noch nie auf Tonträger vorgelegt worden, weil das Master aus den Beständen des Karlsruher Max-Reger-Instituts, die für fast alle Einspielungen herangezogen worden waren, zu stark beschädigt war oder weil die Rolle schlicht nicht vorlag; im vorliegenden Fall konnten erstmals alle Rollen für Tonträger neu übergespielt werden.
Regers Einspielungen sind schon häufiger genauer betrachtet worden. Sie gelten immer wieder als zögerlich, teilweise nachgerade ‚unorganistisch’, jedenfalls nicht repräsentativ. Doch mag ein weiterer Aspekt nicht unbedeutend sein – Regers bewusster Verzicht auf äußerlichen Effekt. Er wählt keine brillanten Toccaten oder Fugen, sondern ‚sanfte Heinriche’, wie er selbst es nannte, meditative Stücke, die vielleicht ihren Höhepunkt im Basso ostinato, dem zentralen Satz der zweiten Orgelsuite op. 92 gefunden haben (einer Art Miniatur-Passacaglia). Es war dies das letzte Stück, das Reger für Welte-Philharmonie einspielte. Schon die eröffnende Fuge G-Dur aus op. 56 Nr. 2 hebt eine besondere Qualität des Interpreten Max Reger hervor – sein legendäres Legatospiel. Zwar bleibt der Interpret seiner eigenen Werke nicht durchgängig im Metrum – in Zeiten der nicht üblichen Reproduzierbarkeit musikalischer Ereignisse war dies aber keine Seltenheit und für die ungewohnte Situation schlägt sich Reger mehr als wacker. Den ‚Schlager’ unter seinen eigenen Orgelwerken, das Benedictus op. 59 Nr. 9, bietet Reger nicht ganz mit den berückend unterschwelligen Registerwechseln oder Dynamiksteigerungen mancher seiner Zeitgenossen und Nachfolger – vor allem der Schweller scheint nicht ganz so differenziert zu reagieren wie viele heute –, doch kommen die einzelnen Register der Britannic-Orgel bestens zur Geltung und verleihen der Interpretation durchaus Überzeugungskraft. Die Melodia op. 59 Nr. 11 kann einige ganz herrliche innige Momente vorweisen, doch stören hier vielleicht etwas zu sehr die mechanischen Nebengeräusche, die bei Musikausübung halt zu hören sein können. Umso beeindruckender dafür die Canzone op. 65 Nr. 9. Etwas problematisch scheint mir der Moment musical op. 69 Nr. 4 (die Kombination Bordun 8‘ und Clarinette 16‘ mag nicht jedermanns Geschmack sein) – dafür bieten die Romanze op. 80 Nr. 8 (auf der Rolle im Handel fälschlich veröffentlicht als op. 69 Nr. 8) und das Präludium aus op. 85 Nr. 3 herrlichsten Lyrismus und zu Herzen gehende Innerlichkeit. Auch die allzu lange ungehörte Reger-Rolle des 'Ave Maria' op. 80 Nr. 5 zeigt den Komponisten auf dem Höhepunkt seiner interpretatorischen Fähigkeiten.
Ein echtes Aha-Erlebnis wird das Choralvorspiel 'Lobt Gott, ihr Christen alle gleich' op. 67 Nr. 23 – bisher war es auf Tonträger bis zu 15% zu langsam überspielt worden. Von den sieben von Reger eingespielten Choralvorspielen haben wir hier ein durchaus kraftvolles Meisterwerk, das auch trotz metrischer Freiheiten beeindruckende Dichte bieten kann. Im Choralvorspiel 'Wie wohl ist mir, o Freund der Seelen' op. 67 Nr. 50 kommt Regers arpeggierter Stil gut zum Tragen – in jener Zeit durchaus nichts Ungewöhnliches, wie man an Frieda Kwast-Hodapps Welte-Mignon-Einspielung von Regers Telemann-Variationen op. 134 in allerbester Weise hören kann. Dort erlebt man auch (noch stärker als hier unter Reger selbst), dass musikalische Wiedergabe nicht sklavisches Abspielen des Notentextes bedeutete, dass der Begriff ‚Nachschaffen’ einmal durchaus eine echte Bedeutung hatte.
Ein weiterer besonderer Wert der vorliegenden Edition, vom Verfasser dieser Besprechung zutiefst erhofft und beglückt zur Kenntnis genommen, ist die Berücksichtigung wichtiger Welte-Einspielungen weiterer Reger-Werke nach dessen Tod. Während Karl Straube, als Reger Freund und Uraufführungsinterpret wohlbekannt, keine einzige Reger-Interpretation auf Welte-Rolle, Schallplatte oder Rundfunkband hinterlassen hat, bietet die zweite CD der Edition Günter Ramin, Kurt Grosse, Joseph Messner und Walter Fischer. Fischer (1872–1931) gehörte neben Straube und diversen anderen zu den frühesten Reger-Exponenten (Reger widmete ihm das zweite Heft seiner Orgelstücke op. 69), Ramin (1898–1956) war Straube-Schüler und Straubes Nachfolger als Thomasorganist in Leipzig, Grosse (1890–?) Organist an der Spandauer Garnisonkirche und Messner (1893–1969) Salzburger Domorganist, doch ohne eigentliche Verbindung zu Reger und seinem Kreis. Messner bietet die Romanze a-Moll WoO IV/11, die Reger 1904 ursprünglich für Harmonium schuf, doch von der er schon bald eine Orgelfassung erstellte. Messner erhebt die Miniatur über den ‚Gelegenheitscharakter’, den Reger in ihr sah, und stattet sie mit reizvollen Registerwechseln aus und nutzt auch das Glockenregister der Welte-Orgel. Günther Ramin tritt sich mit Toccata und Fuge d-Moll op. 129 Nr. 1–2 zu sich selbst in Konkurrenz (er spielte dieselben Stücke sowie Phantasie und Fuge über BACH für Deutsche Grammophon 1953 in der damaligen Hamburger Musikhalle, der heutigen Laeiszhalle ein); auch Ramin nutzt das Glockenregister, was hier allerdings die Kohärenz der einzelnen Abschnitte nicht verbessert und die Brillanz des sie Umgebenden etwas beeinträchtigt – obwohl Ramin unzweifelhaft ein ‚organistischerer’ Organist ist als Reger je war. Gleichzeitig ist aber auch unmittelbar zu spüren, dass sich die Aufnahmetechnik der Firma Welte in den Jahren seit 1913 noch deutlich weiterentwickelt hatte. Kurt Grosse bietet gleich zwei große Reger-Werke auf. Die Choralphantasie über 'Wachet auf, ruft uns die Stimme' op. 52 Nr. 2 und die Phantasie und Fuge über BACH op. 46. Schellackaufnahmen hätten zu dieser Zeit (Alfred Sittard und Paul Hebestreit haben es versucht) nur ein sehr unzureichendes Bild von Regers grandiosen Werken bieten können; Grosses Darbietungen hingegen bieten – anno 1924 – den absoluten Höhepunkt des damals Reproduzierbaren – heute in digitaler Technik in ganz genialer Weise die neunzig Jahre alten Aufführungen ins 21. Jahrhundert transportierend. Selbst wenn an den Rollen eindeutig ‚editorisch manipuliert’ wurde (was machen Tontechniker der Gegenwart häufig anderes als Einzeltakte zu einer neuen Interpretation zusammenzuschneiden?), das Ergebnis ist – um es neutral auszudrücken – beeindruckend; es war höchste Zeit, diese Klangdokumente der Gegenwart wiederzugeben! Dagegen sind die Beiträge Walter Fischers ausgesprochen bescheiden – er bietet 'Kyrie eleison' op. 59 Nr. 7 und 'Gloria in excelsis' op. 59 Nr. 8 (zusammen mit dem 'Benedictus' op. 59 Nr. 9 bieten diese beiden Sätze Regers sogenannte ‚Orgelmesse’). Gleichzeitig erweisen sich eben gerade diese Beiträge als wohl am autoritativsten ‚regerisch’ – auch wenn auch hier das Glockenregister beide Sätze etwas beeinträchtigt.
Wie bereits vermerkt, ist das umfangreiche Booklet leider in diversen Kleinigkeiten nicht ganz akkurat, dafür anderswo etwas zu weitschweifig. Doch insgesamt haben wir hier ein Produkt, an dem jeder, der sich für den Orgelkomponisten Reger interessiert, nicht vorbeikommt.
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Detail-Informationen zum vorliegenden Titel:
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Reger, Max: The Britannic Organ Vol. 8 |
|||
Label: Anzahl Medien: Veröffentlichung: |
OehmsClassics 2 18.08.2014 |
Medium:
EAN: |
CD
4260034868472 |
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OehmsClassics Ein erfülltes Leben ist ohne Musik kaum denkbar. Musik spiegelt unsere Wahrnehmung der Umwelt und die Realität heutiger wie vergangener Zeiten. Gute Musik ist immer neu, immer frisch, immer wieder entdeckenswert. Deshalb bin ich überzeugt: Es gibt nicht -die- eine, definitive, beste Interpretation der großen Werke der Musikgeschichte. Und genau das macht klassische Musik so spannend: Jede Musikergenerationen experimentiert, entdeckt neue Blickwinkel, setzt unterschiedliche Schwerpunkte - derselbe Notentext wird immer wieder von anderen Strömungen belebt. Deshalb ist ein Musikstück, egal aus welchem Jahrhundert, auch immer Neue Musik. OehmsClassics hat es sich zur Aufgabe gemacht, am Entdecken der neuen Seiten der klassischen Musik mitzuwirken. Unser Respekt vor den künstlerischen Leistungen der legendären Interpreten ist gewiss. Unser Ziel als junges CD-Label sehen wir jedoch darin, den interpretatorischen Stil der Gegenwart zu dokumentieren. Junge Künstler am Anfang einer internationalen Karriere und etablierte Künstler, die neue Blickwinkel in die Interpretationsgeschichte einbringen - sie unterstützen wir ganz besonders und geben ihnen ein Forum, um auf dem Tonträgermarkt präsent zu sein. Sie, liebe Musikhörer, bekommen damit die Gelegenheit, heute die Musikaufführung zu Hause nachzuvollziehen, die Sie gestern erst im Konzertsaal oder Opernhaus gehört haben. Wir laden Sie ein, gemeinsam mit uns die neuen Seiten der klassischen Musik zu erleben!
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