
Britten, Benjamin - Death in Venice
Außerhalb realistischer Grenzen
Label/Verlag: Opus Arte
Detailinformationen zum besprochenen Titel
Man findet vielleicht ein wenig schöner gesungene Mitschnitte von Brittens 'Death in Venice' als die hier vorgelegte aus der English National Opera London, aber keine intensivere szenische Darstellung.
Benjamin Britten spiegelte nicht selten in seinen Opern Probleme oder Aspekte seiner Persönlichkeit, die ihn besonders intensiv beschäftigten. In seiner letzten Oper 'Death in Venice' nach Thomas Manns berühmter Novelle behandelt er einen Themenbereich, der in der damaligen Zeit gleich einen doppelten Straftatbestand darstellte – Homosexualität an sich und das (natürlich auch heute strafbare) Begehren nach einem Minderjährigen. Diese Neigungen waren Britten persönlich spätestens seit seinen 20er-Jahren bewusst, und in mehreren seiner Kompositionen sublimiert er sie zu musikalisch äußerst gelungenen Schöpfungen. 'Death in Venice' bietet musikalisch die äußerste vorstellbare Konzentration, ist gewissermaßen die Summe von Brittens kompositorischem Können als Opernkomponisten; gleichzeitig schlägt das Werk Brücken zu anderen Kompositionen Brittens, etwa zu 'The Turn of the Screw', jener Oper, die in Venedig ihre Uraufführung erlebte und die in gewisser Weise der ‚unschuldige’ Widerpart zu 'Death in Venice' ist.
Der hier vorliegenden Produktion aus der English National Opera London unter der Regie von Deborah Warner gelingt die erforderliche Abstraktion, verbunden mit starker emotionaler Ausgestaltung. Im Zentrum steht John Graham-Hall als Gustav von Aschenbach, jener Schriftsteller in einer Schaffens- und vor allem Lebenskrise, der in Venedig seinem Schicksal begegnet. Graham-Hall hatte sich schon 1985 als Albert Herring in Glyndebourne als Britten-Interpret von höchsten Graden qualifiziert, 2012 wurde sein Peter Grimes in Mailand auf DVD mitgeschnitten. Sein Stimmtimbre ist durchaus charakteristisch, dessen darstellerische Intensität jeden Moment außer Frage steht. Andrew Shore, in den vergangenen dreißig Jahren eine renommierte Größe der britischen Opernbühnen, vor allem für seine komischen Rollen, ist trotz mittlerweile etwas beeinträchtigter Stimmqualität ein beeindruckender Gegenüber, mehr oder weniger Aschenbachs unterbewusstes ‚Schicksal’; durch kleine Eigenheiten gestaltet er die kurzen Episodenrollen individuell aus und verleiht ihnen dennoch eine starke Einheitlichkeit. Sam Zaldivar als Tadzio bietet ein perfektes Bild der unschuldigen jugendlichen Schönheit (Choreografie Kim Brandstrup). Schließlich noch Tim Mead in der kleinen, aber wichtigen Rolle des Apollo (als Vertreter der apollinischen Haltung im Gegenpol zu der sinnenzugewandten Haltung des Dionysischen) – hier ganz unaufdringlich der Handlung in Kostüm und Verhalten integriert. Meads Countertenor befindet sich zurzeit auf dem Höhepunkt seiner Fähigkeiten, er passt sich bestens in die gesanglich hohe Qualität der Interpretation ein.
Warner gelingt eine überaus differenzierte Darstellung nicht nur Aschenbachs, sondern auch der Welt, wie wir sie durch seine Augen sehen, zunächst vulgär und laut, später sensuell attraktiv, verführerisch und gefährlich. Geradezu ‚Period dramas’ scheinen die einzelnen Episoden entstiegen, gleichzeitig abstrahiert und dennoch merkwürdig realistisch (Brittens Librettistin selbst liefert die Beschreibung des Charakters der ganzen Oper in einer Äußerung Aschenbachs in der vierten Szene). Besonders erfreulich, dass es Warner nicht für nötig hält, die Handlung in irgendeine andere unpassende Epoche zu verlegen und damit die Grundaussagen der Oper zu verunklaren. Natürlich fragt sich der deutsche Hörer, warum die wenigen vorkommenden Worte in deutscher Sprache derart akzentstark vorgebracht werden müssen; besteht keine Fremdsprachenpflicht an britischen Opernhäusern?
Edward Gardners Dirigat, musikalisch gelegentlich etwas äußerlich und mehr virtuos als tiefgründig (am wenigsten in Momenten der letzten Szene der Oper), tritt hier durch die starken Akteure nicht selten in den Hintergrund, so dass wir ein theatralisch reiches, klanglich vielfältiges Gesamtbild erhalten. Insgesamt entsprechen Chor- und Orchesterleitung voll und ganz den Erfordernissen (wenn auch das Orchester in der ‚guten alten Zeit’ doch noch intensiver musiziert hat); der Verzicht auf vordergründige Klangschönheit bei den Solisten bei gleichzeitiger höchster Durchsichtigkeit bedeutet eine besondere Qualität der vorliegenden Produktion.
Die Aufnahmequalität (Fernsehregie Ross MacGibbon) entspricht modernstem Standard (von der DVD gibt es auch eine Blu-ray-Ausgabe), der Klang in Digital-Stereo bzw. dts-Surroundsound ist brillant ohne äußerlich zu werden. Ganz ohne Frage haben wir hier eine der besten derzeit vorstellbaren Interpretationen von Brittens letzter Oper, auch durch die teilweise fast surrealistische Regie Deborah Warners szenisch der musikalischen Qualität vollkommen gleichwertig. Szenenaustattung (Tom Pye), Kostüme (Chloe Obolensky) und Lichtgestaltung (Jean Kalman) bilden eine in sich runde Sache, die die Handlung auf bestmögliche Weise unterstützt (wer unnötige Regiemätzchen sucht, wird hier wenig Freude haben). Man kann sich das Werk vielleicht schöner gesungen vorstellen (besonders Richard Edgar-Wilson, früher einmal selbst ein renommierter lyrischer Tenor, klingt in seiner kleinen Rolle arg abgesungen; dafür lässt Marcus Farnsworth in seiner Rolle als Mitarbeiter im Reisebüro aufhorchen) – intensiver dargestellt kaum. Schade, dass weder Bonusmaterial (außer einer Besetzungsgalerie) noch ein Booklet von angemessener Qualität (der Booklettext befasst sich nach Meinung des Rezensenten vornehmlich mit Nebensächlichkeiten, aber nicht mit der Essenz von Brittens Intentionen) die DVD-Produktion begleiten.
Interpretation: Klangqualität: Repertoirewert: Booklet: Features: Regie: |
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Detail-Informationen zum vorliegenden Titel:
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Britten, Benjamin: Death in Venice |
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Label: Anzahl Medien: Veröffentlichung: |
Opus Arte 1 07.04.2014 |
Medium:
EAN: |
DVD
809478011309 |
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