
Sibelius, Jean - Sämtliche Sinfonien
Erforschung sinfonischer Räume
Label/Verlag: Chandos
Detailinformationen zum besprochenen Titel
Mit ihrer Interpretation der sieben Sinfonien von Jean Sibelius gelingt John Storgårds und der BBC Philharmonic eine kleine musikalische Sensation.
Gesamtaufnahmen der Sinfonien von Jean Sibelius sind beileibe keine Seltenheit. Diese bei Chandos erschienene Neueinspielung mit der BBC Philharmonic unter Leitung von John Storgårds hat es allerdings in sich und hebt sich positiv von vielen anderen Interpretationen ab. Warum dies so ist, vermag etwa der Beginn der Sinfonie Nr. 1 e-Moll op. 39 zu verdeutlichen: Der Kopfsatz erwächst ganz allmählich aus der behutsam geformten Klarinettenmelodie heraus, die durch fast unmerkliche Anlagerung anderer Instrumentalfarben Schatten zu werfen beginnt, bevor sie in das Hauptthema mündet. Selbst dann bleibt die Musik aber – den Ausdruck des Beginns fortsetzend – schlicht und gelegentlich sogar distanziert im Klang, was die immer wieder eintretenden Momente des Aufblühens umso stärker macht.
Dass dieser Zugang ganz im Dienst des Aufbaus von Spannungsbögen steht, macht der Beginn der Sinfonie Nr. 2 D-Dur op. 43 deutlich: Hier formt Storgårds – unter Zuhilfenahme der Artikulation in den begleitenden Streichern – die Kantilenen sehr plastisch und sorgt mit den Spannungspausen und dem darauf bezogenen Stocken und Innehalten für permanent wechselnde Spannungszustände. Die solchermaßen erzeugte Flexibilität ist auch für andere Stellen charakteristisch: Ein besonders schönes Beispiel ist Pizzicato-Begleitung zu den Flöten und Klarinetten im 'Andantino'-Satz von op. 43. Extrem differenziert geht Storgårds jedoch auch mit den Staccati und Pizzicati im 'Andante'-Mittelsatz der Fünften Sinfonie um, wo auch die ‚marcato’-Läufe und die unterschiedlichen Arten des Legatos und des Abphrasierens von melodischen Bögen von einem selten zu hörenden Umgang mit dem Notentext zeugen.
Die Dynamik der Werke ist weit ausgelotet, Blechbläsereinsätze ragen oft wie Skulpturen aus dem Gesamtklang heraus, und die satzübergreifenden Motive sind, wie in der Sinfonie Nr. 2 D-Dur op. 43, extrem gut herausgearbeitet. Dass Storgårds sich dabei, wie im Finale von op. 43, nicht in Überschwang verfängt, sondern in der Zurücknahme eine angenehme Distanz erkennen lässt, macht die Aufnahme besonders spannend. Diese Strategie der Zurückhaltung bei gleichzeitigem Blick auf die satztechnischen Details zahlt sich aus und prägt den Zugang zu allen Sinfonien, denn gerade der Verzicht auf übermäßige Emphase dient dem Aufbau von Spannung. Doch auch die heiteren Elemente – die Stimmung im Kopfsatz der Zweiten Sinfonie, der bukolische Charakter des Kopfsatzes aus der Sinfonie Nr. 3 C-Dur op. 52 oder des zweiten Satzes aus der Sinfonie Nr. 4 a-Moll op. 63 – werden von den Beteiligten spannend umgesetzt.
Besonders überzeugend gerät die Aufnahme jedoch immer dort, wo Sibelius unterschiedliche rhythmische Schichten übereinander schichtet, wie er dies am Ende der Kopfsätze von op. 39 oder op. 43 tut. Storgårds schafft es an solchen Stellen bei der Darstellung der miteinander konfrontierten Klangschichten das Gefühl von Fremdheit zu verstärken, indem er das Fehlen vermittelnder Elemente herausstreicht und es als Impuls für den dramaturgischen Aufbau von Höhepunkten ausnutzt. Wenn dann noch, wie im dritten Satz der Vierten Sinfonie, ein schwebender, verschleiernder Umgang mit der Rhythmik (in den tiefen Stimmen Synkopen, in den hohen hingegen Triolen mit Verschiebungen) hinzutritt, gelingt den Ausführenden mit tatkräftiger Unterstützung des Tontechnikers eine ungemein faszinierende und in höchstem Maße räumlich wirkende, dabei von Präzision geprägte Formung der Musik. Selten ist die Erforschung der sinfonischen Räume in den Sinfonien von Sibelius so plastisch zu erleben gewesen.
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Detail-Informationen zum vorliegenden Titel:
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Sibelius, Jean: Sämtliche Sinfonien |
|||
Label: Anzahl Medien: Veröffentlichung: |
Chandos 3 04.04.2014 |
Medium:
EAN: |
CD
095115180921 |
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Chandos Chandos Records was founded in 1979 by Brian Couzens and quickly established itself as one of the world's leading classical labels. Prior to forming the label, Brian Couzens, along with his son Ralph, worked for 8 years running a mobile recording unit recording for major labels (including RCA, Polydor, CFP, etc.) with many of the world's leading artists.
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