
Ensemble nu:n - Estampie
Bühnenwechsel
Label/Verlag: Raumklang
Detailinformationen zum besprochenen Titel
Das Ensemble Nu:n beleuchtet mittelalterliche Estampien mit improvisatorischen Mitteln der Gegenwart. Das Ergebnis ist kurzweilig, aber zwischendurch wünscht man sich auch mal ein wenig ruppigere Klänge.
In uns steckt die musikalische Hörerfahrung des späten 19. und des 20. Jahrhunderts. Je weiter es in der Musikgeschichte zurückgeht, desto weniger können wir ästhetische Anknüpfungspunkte erfassen. Das gilt besonders für das Mittelalter - einem Feld für Eingefleischte. Auf der einen Seite Dudelsäcke, Trommelzüge, Mittelalterfestivals, Corvus Corax und Burgkonzerte. Auf der anderen Seite die Historiker und Musikwissenschaftler, vertieft in Sammlungen von Handschriften des 7. bis zum 15. Jahrhundert, stets um die Paläographie bemüht, mit dem Ziel, Menschen, Leben und Kunst dieser Zeit verstehen zu lernen. Sich zwischen diesen beiden zum Zwecke der Polemik oben beschriebenen Welten der Mittelalterrezeption zu bewegen und dabei etwas musikalisch Neues zu schaffen, hört sich im besten Sinne ambitioniert an.
Ein Manuskript - ein Wagnis
Das deutsche, 2003 gegründete Ensemble Nu:n ging solch einen Weg zwischen den Welten. Dabei entstand eine Aufnahme mit dem Titel ‚estampie’, die beim Label Raumklang 2014 erschien. Das Ensemble setzt sich aus dem Gitarristen und Komponisten Falk Zenker, der Perkussionistin Nora Thiele und dem Saxophonisten Gert Anklam zusammen, deren musikalische Stärken sich bereits vor dieser Produktion in vielfältiger Weise zeigten. Die nun schon zweite CD-Produktion des Ensembles Nu:n, das sich aus dem gesetzten Ziel heraus, eine Neuinterpretation der ältesten überlieferten Instrumentalmusik zu erreichen, versteht, ging aus einem gewonnenen Ensemblewettbewerb hervor, dessen Preis eine Audioproduktion durch Deutschlandradio Kultur war.
Wie es der Titel vermuten lässt - ein bestätigender Blick in das geschmackvoll gestaltete Booklet eingeschlossen -, handelt es sich um eine Beschäftigung mit mittelalterlicher, instrumentaler Musik, genauer: um eine der ältesten schriftlich überlieferten Aufzeichnungen weltlicher Musik des Hochmittelalters, die den Namen ‚Estampies Royales’ bzw. ‚Chansonnier du Roi’ trägt und als Handschrift in Fachkreisen Berühmtheit erlangte. Auch bekannt unter dem Namen ‚Manuscrit du Roi’, stammt es aus der Zeit um 1300, der Frühzeit schriftlich fixierter Musik, beinhaltet acht sogenannte Estampien, d.h. textlose, formal klar strukturierte Stücke unbekannter Autoren in Quadratnotation. Da es sich um ein Repertoire handelt, das bisweilen nur echten Fachleuten mittelalterlicher Musizierpraxis bekannt ist, sei hier kurz erläutert, um was es sich bei einer Estampie handelt.
Auch ‚estampida’ oder ‚stampide’ genannt, aus dem Altfranzösischen bzw. Altokzitanischen stammend, ist der Begriff bereits im12. Jahrhundert nachweisbar. Übersetzungen können von ‚stampfen’ bis hin zu ‚stempeln’ oder ‚brandmarken’ reichen. Ursprünglich als instrumentales Vortragsstück gedacht, aber problematischerweise im Zuge des Mittelalter-Revivals in den Kanon früher Tanzlieder/Tänze eingeordnet, besitzen die Estampien einen typischen formalen Aufbau in Strophen bzw. Halbstrophen, wobei Anfang und Schluss (auch Clos und Overt) häufig paarig gleich sind. Als Spielstück eindeutig mit literarischen Quellen belegt, ist die Estampie häufig mit Fiedel, Blas-oder Tasteninstrumenten dargebracht worden. Wenige Quellen sprechen von einer Verbindung zum Tanz.
Wie ging nun das Ensemble Nu:n mit der eben beschriebenen Sammlung von acht Estampien um? Bereits der Booklettext von Falk Zenker lässt die Bandbreite der Arbeit am Material erahnen. Der durchgängige Tenor ist die klangliche und nicht historische Aufführungspraxis abbildende Erforschung des mehr als 700 Jahre alten Materials in seiner Beschaffenheit unter der Prämisse interessierten Hineinhörens in Unbekanntes. Die musikalische Perspektive unserer Zeit, also gewissermaßen den individuellen und aktuellen Erfahrungshorizont dabei nicht zu negieren, spielte bei der Interpretation eine wichtige Rolle. Sie bildete die Voraussetzung für einen kreativen Umgang mit der alten Musik. Der Notentext wurde vom Ensemble nicht nur einer konkreten, melodischen Betrachtung unterzogen (wie modale, intervallische Konstruktion). Auch die Erfahrungen der Musiker mit Jazz, Popularmusik, Improvisation, klassisch-romantischer Traditionen sowie zeitgenössischen Ansätzen sowie Neuer Musik wurden wie ein Filter auf die Vorlage gesetzt. Die nicht übergehbaren außereuropäischen Einflüsse auf die Musik des Mittelalters, d.h. der arabischen und jüdischen Kultur gingen ebenfalls in die Produktion ein.
Das Instrumentarium
Das Ensemble Nu:n wechselt in der Besetzung nur marginal ab. Zum Einsatz kommen Sopran- und Baritonsaxophon, klassische Gitarre und ein Set aus verschiedenen Schlaginstrumenten (hauptsächlich Rahmentrommeln), das auf das 13. Jahrhundert angepasst wurde. Die Idee der Kombination von Saxophon und mittelalterlicher bzw. früher Musik ist nicht neu. Bereits Mitte der 1990er Jahre erschien mit dem Album ‚Officium’ ein Klassiker des Crossover, bei dem das stimmlich unverkennbare Hilliard Ensemble den Saxophonisten Jan Garbarek bei geistlicher, mehrstimmiger Musik des Mittelalters farbig kontrapunktierte.
Der Verzicht auf das ‚vorbelastete’ Tenor- bzw. Altsaxophon fügt sich logisch in das Gesamtkonzept der CD ein, dies nicht zuletzt der Kitschvermeidung wegen. Zum einen wirkt das Sopransaxophonspiel Gert Anklams, von zart bis lyrisch-lieblich zeichnend, wie die Alterierung der mittelalterlichen Schalmei, zum anderen kann die Zusammenstellung des Trios als Transformation der mittelalterlichen Spielmannsmusik bestehend aus Schalmei (Sackpfeife), Knickhalslaute (oder Oud) und Rahmentrommel gesehen werden. Der Wechsel zum klanglich reichen und charaktervollen Baritonsaxophon rundet das auditive Erlebnis ins tiefere Register ab. Die von Anklam technisch auf hohem Niveau ausgeführten Tonereignisse überzeugen. Auch die Handhabung der Perkussion durch Nora Thiele fällt sensibel aus und ist auf feine Artikulation bedacht, übersteigt aber nie ein angemessenes Maß an Aktivität. Reizvoller hingegen ist die feine Abstufung der zur Verfügung stehenden Elemente. Von ‚Groove’ lässt sich beispielsweise sprechen, wenn in ‚La Tierche Estampie Royal’ (Track 3) ein stärker vom Rhythmus getriebenes Fundament geschaffen wird.
Im Dialog mit den Estampien
Die dramaturgische Konsequenz der Abfolge der acht bearbeiteten Estampien besteht im Grad der Abwandlungen, Variationen, Improvisationen auf die Estampie-Melodien. Dabei zeichnet sich eine zunehmende Auflösung des mittelalterlichen Kolorits bis zur siebenten Estampie ab, deren Verfremdung nur periphere Erinnerungen an die Estampie zulassen. Die ‚Prima Estampie’ ist am spielerischsten gestaltet. Dadurch nimmt auch harmonisch bedingt die Vorlage Züge eines ‚Tunes’ an. ‚La Seconda Estampie’ erfüllt zwar die typische Estampien-Form deutlich, dennoch kann die ‚Komposition’ die Melodie durch veränderte modale Linie charakterlich zu etwas Neuem umkippen. ‚La Quarte Estampie’ ist die bekannteste unter den acht. Das Ensemble Nu:n kleidet sie in ein frischeres Gewand. Improvisatorisch wirkende Einleitung, harmonisch kontrastreiches Spiel und eine deutliche Referenz zur typischen Form der Jazzstandards (Tune-Solo Section-Tune) entführen das mittelalterliche ‚Thema’ in Bereiche des Verlusts musikalischer Selbstähnlichkeit. Von klassischer Motivarbeit inspiriert scheint sich das Stück mit fremdem Material anzureichern; es erfährt dadurch auch einen charakterlichen Wandel, wodurch es zu einer interessanten, zuweilen frechen Neukomposition wird. Die Estampien 5 bis 8 gewinnen zum Teil kinderliedhafte, humoristisch Züge. Darunter leidet meines Erachtens die Verwandtschaft zum Original, sie wird jedoch durch spieltechnische Raffinessen wieder aufgefangen. Solche Momente sind in dieser Aufnahme häufiger anzutreffen. Das ist bei musikalischen Gratwanderungen solcher Art auch zu erwarten.
Hinzu treten Klänge, die man auch in der Musique Concreté Instrumentale, etwa in Werken Helmut Lachenmanns findet. Geräuschhaftes fragmentiert die Vorlage, bleibt aber stimmig und seriös. Das von Zenker im Booklet beschriebene ‚Hineinlauschen’ in die überlieferten Melodien zeigt sich in behutsam ausgehörten Linien, ideenreichen Reharmonisierungen und kontrapunktischen Akkompagnements. Die Nähe mancher Wendungen zu Rockballaden, Popsongs, Chansons und Blues geraten treibend, verlieren ihre Energie aber mangels konturierter Schärfe in der Rhythmusgruppe. Klezmer, arabische Anleihen und Folk-Elemente generierten polystilistische Metamorphosen, die Farbenreichtum besitzen. Sie wirken für meinen Geschmack trotzdem ein wenig inkonsistent.
Improvisation, situativ-spontane musikalische Interaktionen auf Basis der mittelalterlichen Quelle machen größtenteils das Erlebnis dieser CD-Produktion aus. Unterstützt wird das facettenreiche Hörerlebnis durch eine überzeugende musikalische Darstellung. Generell mangelt es aber ein wenig an Schwung; der ‚brave’ Tonfall wird aufkosten überraschenderer Momente oder Ausbrüche kaum verlassen. Stärkere Reibungen im Material fallen der Atmosphäre zum Opfer.
Äußerst bestechend an der Produktion dieser CD ist die hohe Audioqualität. Die Art der klanglichen Transparenz und zugleich Wärme rührt vermutlich von den akustischen Eigenschaften der Räumlichkeiten (Siemensvilla Berlin) her. Außerdem unterscheidet sich die Einspielung von zahlreichen anderen Studioaufnahmen durch eine außergewöhnliche Balance der Stimmen.
Transformation erfolgt - was Nu:n?
Sensibilität, Behutsamkeit, Homogenität sind die Vokabeln, die die vom Ensemble Nu:n vorgelegte zweite Produktion nach der CD ‚Salutare’ (2005), ebenfalls beim Label Raumklang erschienen, beschreiben. Der kreative, lockere Umgang mit den mittelalterlichen Estampies erforscht den Klang, transformiert die alten Melodien in einen Raum der stilistischen Verschmelzungen, lässt dabei aber viel Raum für Atmosphäre und klangliche Ausgewogenheit. Die improvisatorisch aufgelockerten sowie verdichteten Collagen der Estampies sind größtenteils überzeugend. Allerdings verlässt das Ensemble die weiche Tongebung nicht, wodurch emotionalere Eruptionen fehlen. Dennoch scheint die vom Gitarristen proklamierte Neuinterpretation ältester überlieferter Instrumentalmusik des Abendlandes erfüllt. Zudem unterstreicht das technische Know-how der Musiker diesen Eindruck. Instrumentarium und Spielweise schaffen ein Album intensiver Stimmungen. Zwar treten die mittelalterlichen Melodien oftmals weit in den Hintergrund (echte Spezialisten kommen hier nicht auf ihre Kosten). Trotzdem läuft die Musik kein einziges Mal Gefahr, in ein kitschiges Crossover abzudriften.
Auf jeden Fall darf man auf weitere musikhistorische Entdeckungen des Ensembles gespannt sein, wenn es sich der ältesten überlieferten Instrumentalmusik des Abendlandes annimmt. Vielleicht ein Ausflug in die Ars Nova oder zu Oswald von Wolkenstein?
Interpretation: Klangqualität: Repertoirewert: Booklet: |
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Detail-Informationen zum vorliegenden Titel:
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Ensemble nu:n : Estampie |
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Label: Anzahl Medien: Veröffentlichung: |
Raumklang 1 14.03.2014 |
Medium:
EAN: |
CD
4018767033076 |
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Raumklang Das Label RAUMKLANG wurde 1993 von Sebastian Pank in Leipzig gegründet. Nach wie vor steht der Name Raumklang für ein authentisches Klangerlebnis. Die Aufnahmen entstehen überwiegend mit nur einem Stereo-Kugelflächen-Mikrophon (One-Point-Recording).
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