
Beethoven, Ludwig von - Leonore
Immer noch alternativlos
Label/Verlag: Brilliant classics
Detailinformationen zum besprochenen Titel
Diese grandiose Einspielung von Beethovens 'Leonore' hat nur einen Haken: den Sänger des Florestan. Ansonsten aber ist sie absolut hinreißend, und das schon seit vielen Jahrzehnten. Brilliant tut gut daran, diesen Brillanten wieder aufzulegen.
Als 1998 in der Bonner Beethovenhalle Ludwig van Beethovens 'Leonore' konzertant gegeben wurde, waren die Erwartungen groß. Die Interpretin der Titelrolle der legendären Dresdner Studioproduktion vom Frühjahr 1976 war anwesend – doch selbst als Zuhörerin strahlte Edda Moser damals mehr aus als die Sängerin auf dem Podium. Die Dresdner Produktion war in vielerlei Hinsicht ein Glücksfall – nicht zuletzt weil sich die Einspielung des 'Fidelio' unter Kurt Masur zerschlug. So haben wir sie immerhin in einer 'Leonoren'-Fassung (der angeblichen Uraufführungsfassung 1805), so wie sie damals interpretiert wurde (seither haben neue Erkenntnisse der Beethoven-Forschung die Perspektiven teilweise verändert).
Die berühmteste Abweichung ist neben dem Terzett 'Ein Mann ist bald genommen' vor allem das B (nicht A) auf (Tödt erst sein) ‚Weib‘, wie bei Moser wie ein Messer ins Herz dringt. Moser war Ausdruckssängerin durch und durch, und auch wenn sie gelegentlich über das Ziel hinausschoss (ihre Genoveva wirkt rein klanglich deutlich selbstbewusster als die Sängerin damals gewesen sein mag), bescherte sie uns doch insgesamt fast ausnahmslos herrlichste Sternstunden – Sternstunden, die heute in der sogenannten großen Oper deutschen Faches so gut wie ausgestorben sind. Das liegt zum einen an der ausgesprochenen Eloquenz und Wortdeutlichkeit Mosers, aber auch an der Bewusstheit dem gegenüber, worum es ging. Wenn man Moser in 'Ach brich noch nicht' (der Frühform von 'Abscheulicher') hört, bricht es dem Hörer fast selbst das Herz.
Es ist ein schwieriges Ding, diese 'Leonore 1805', eine Mischform, die noch stärker der Tradition verwurzelt ist als die Spätform 'Fidelio' – teils Singspiel, teils Rettungsoper, beides noch nicht ganz entschieden, musikalisch irgendwie noch auf dem Weg zum neuen Ideal. Herbert Blomstedt nimmt sich dieses schwierigen Objektes an, findet den rechten Ton für beide Aspekte. Die ‚Wunderharfe‘ Staatskapelle Dresden mag in anderen Aufnahmen gerade in den Streichern noch einen Hauch wärmer blühen, doch ist die Durchhörbarkeit des Orchesterklanges (und nicht nur des Orchesterklanges, sondern auch der Ensembles und Chöre), die räumliche Weite der Dresdner Lukaskirche, jenes legendären Aufnahmestudios der VEB Deutschen Schallplatten, in bestmöglicher Weise eingefangen (dass die Kerkerszene aufnahmeakustisch auch das Orchester einbezieht, ist eine kluge Entscheidung, die die Unmittelbarkeit des Erlebnisses noch steigert). Auch heute noch ist diese Aufnahmequalität (Aufnahmetechnik Claus Strüben und Gerald Junge, Produktionsleitung Bernd Runge) nicht anders als exemplarisch zu bezeichnen, der Digitalschnitt (Annelene Dziengel und Hildegard Miehe) rundum gelungen. Natürlich erfährt man hierüber im (kurzen englischsprachigen) Brilliant-Booklet nichts, sondern nur im Berlin Classics-Originalprodukt, das hier in Lizenz vorgelegt wird.
Edda Moser hat in dieser Produktion kaum einen Partner, der ihr nicht voll auf Augenhöhe gegenübertreten kann. Theo Adam auf dem Höhepunkt seines Könnens ist ein herrlich fieser Pizarro (und wenn er in 'Ha, welch ein Augenblick' plötzlich Worte wiederholt, die in 'Fidelio' später fehlen, ist dies zusätzlich verstörend). Auch er ist ein Singdarsteller allerersten Grades, dem man die Charaktergestaltung rundum abnimmt, auch im heiklen dritten (in 'Fidelio' später zweiten) Akt. Insgesamt finde ich ihn hier – nicht zuletzt wegen der besseren Partner – deutlich besser als unter Solti 1979 (neben Peter Hofmann und Hildegard Behrens) oder Böhm 1969 (neben James King und Gwyneth Jones, ebenfalls in Dresden). Karl Ridderbusch, schon 1970 Karajans Rocco, liefert ein differenziertes Rollenporträt, das Rocco nicht zum gierigen Helfershelfer macht, sondern zum Pragmatiker, der sich und seine Tochter in einer unmenschlichen Gesellschaft nach Kräften durchzubringen sucht. Helen Donath, auch bei Karajan schon eben jene Tochter, klingt immer noch jugendlich-charmant, konnte aber seit ihrer ersten Studioproduktion doch in der Rolle reifen. Überdies ist die Konstellation Donath-Moser deutlich überzeugender als die Konstellation Donath-Helga Dernesch, vielleicht weil Dernesch im Plattenstudio im Grunde selten ebenso überzeugte wie im Live-Erleben, ebenso zutiefst fokussiert war – gerade als Leonore ist Moser hier einfach umwerfend. Eberhard Büchner, viel zu unbekannt gebliebener lyrischer Tenor der Sächsischen Staatsoper, gibt einen herrlich pointierten, weder in 'Jetzt, Schätzchen, jetzt sind wir allein' noch im Quartett in der Charakterisierung überzogenen Jaquino, so dass, zusammen mit dem Rundfunkchor Leipzig (Chordirektion Horst Neumann), die ersten beiden Akte ganz ohne jede Frage rückhaltlos fünf Sterne verdienen.
Im Kerker erscheint denn aber der einzige Wermutstropfen der Produktion – in Gestalt des Florestan Richard Cassilly. Der amerikanische Heldentenor repräsentiert die übelsten Traditionen, die der Partie in den vergangenen hundert Jahren angediehen wurden, wäre doch die Besetzung mit einem lyrischen Charaktertenor doch Musik und Rolle weitaus angemessener. Zugegeben, der Florestan ist und bleibt eine ‚Killerpartie‘, und nicht wenige Sänger scheitern in der zehnminütigen Tour-de-force. Sänger wie Ernst Haefliger (unter Ferenc Fricsay) oder Richard Holm (unter Fritz Lehmann in der Felsenstein-Verfilmung) oder Jahrzehnte später Siegfried Jerusalem und Peter Seiffert haben gezeigt, wie man die Partie singen kann, ohne ihr (und sich selbst) musikalisch Gewalt anzutun. Cassilly gehört zu der langen Riege jener, die durch Lautstärke und Druck Ausdruck künstlich erzwingen wollten, weil sie ihn rein vokal nicht gestalten konnten (meist wurden vokale Defizite als Gestaltungsmittel eingesetzt); gerade in den 1970er-Jahren gab es wohl kaum einen Tenor weltweit, der den Florestan rundum überzeugend musikalisch hätte gestalten können (der verlässliche James King war zumeist das geringste Übel). Immerhin ist Cassilly außerordentlich textverständlich – und die Fiebervision des 'Engels Leonore', die die meisten Sänger über ihre Grenzen hinaus fordert, bleibt einem durch die Version der Oper hier erspart (dies ein weiteres Beispiel für die noch etwas traditionellere Gestalt der 'Leonore'). Dass Cassilly seinen Part in den Dialogen nicht selbst spricht, sondern Gunther Emmerlich (dem geneigten TV-Zuseher als ostdeutsche Antwort auf Günter Wewel bekannt), ist bezeichnend für das Problem der Besetzung des Florestan.
In den kleineren Rollen ist die erste Sängerriege der damaligen Staatsoper Dresden aufgeboten, mit Reiner Goldberg und Siegfried Lorenz für die Gefangenen und Hermann-Christian Polster für den Minister. Während aber Goldberg und Lorenz wie Luxus wirken, den sich sonst nur ein Karajan gönnte, hält Polster der hochkarätigen Konkurrenz (José van Dam unter Karajan, Theo Adam unter Kurt Masur, Hermann Prey unter Maazel, Martti Talvela unter Böhm, Hans Sotin unter Bernstein, Tom Krause unter Dohnányi) nicht ganz stand.
Ich liebe diese Produktion seit Jahrzehnten, das gestehe ich gerne. Auch wenn ich beim Florestan Abstriche machen muss, so bietet sie doch eine der musikdramatisch überzeugendsten Gesamtleistungen von Beethovens Oper und ist ganz ohne Frage die unumstrittene Referenz jedweder Einspielung der Frühversion der Oper.
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Detail-Informationen zum vorliegenden Titel:
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Beethoven, Ludwig von: Leonore |
|||
Label: Anzahl Medien: Veröffentlichung: |
Brilliant classics 2 04.04.2014 |
Medium:
EAN: |
CD
5028421948683 |
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