
Barber, Samuel - Souvenirs & Recollections
Barber, früh und spät
Label/Verlag: Stradivarius
Detailinformationen zum besprochenen Titel
Die 2013 erschiene CD von Gianpaolo Nuti und Daniela de Santis verbindet Samuel Barbers weitgehend unbekanntes Früh- mit dem berühmten Spätwerk seines Klavierschaffens.
In Europa besteht nur geringer Kontakt zur klassischen Musik in den Vereinigten Staaten. Zeitlich etwa vom 18. bis ins 21. Jahrhundert reichend, enthält sie viele Einflüsse, darunter Folktradition, Jazz, Filmmusik und europäische Romantik. In europäischen Konzertprogrammen als auch im musikwissenschaftlichen Diskurs sind Werke von Piston, Copland, Ives, Bernstein oder Samuel Barber Ausnahmen. Das 'Adagio for Strings' von Samuel Barber, ursprünglich der zweite Satz des 1936 komponierten Streichquartetts in B-Dur, ist eine solche Ausnahme. Wie sieht es aber mit Barbers Klaviermusik aus?
Hier setzt die vorliegende Aufnahme ‚Souvenirs and Recollections. Early and Late Piano Music an, die von den italienischen Pianisten Giampaolo Nuti und Daniela De Santis eingespielt wurde. Diese Produktion beleuchtet Barbers Spät-und Frühwerk auf dem Gebiet der Klaviermusik. Nuti führt den Hörer chronologisch über Jugendkompositionen bis zum letzten Klavierstück, das Barber 1977 als Auftragskomposition für einen Klavierwettbewerb komponierte. Hervorzuheben ist die Fülle an Ersteinspielungen, die die Aufnahme bereithält. Zusammengefasst zu Gruppen sind Kompositionen vom 13- bis 22-jährigen und vom 42- bis 67-jährigen Samuel Barber.
Aus der Serie an Jugendwerken ist vor allem 'Petite Berceuse' von 1923 an Lieblichkeit kaum zu übertreffen. In Anlehnung an die Form des romantischen Wiegenliedes exploriert Barber hier in traditionell romantischer Harmonik eine kleine Melodie, getragen von ruhiger Begleitung in Dezimen. Nuti erfässt den Charakter dieses Werks mit durchwegs sanftem Ton – ein beruhigendes, träumerisches Charakterstück. Mit 'Prelude to a tragic drama' verwandelt sich Barbers Ton, aber auch Nutis. Über eine ausgedehnte, dramatische Introduktion, die sich expressiv steigert, erreicht die Komposition ein Fugato in Oktaven. Ein kurzes, harmonisch fragendes und dynamisch innehaltendes Moment setzt über zur Reprise des ersten Teils. Nuti präsentiert im Stück einen vierminütigen Spannungsbogen, der zum Ende hin, der Komposition entsprechend, ausfranst. Der lockere Zugang zur Musik, der im brauchbaren Booklet-Begleittext von Aloma Bardi in Bezug auf die zwei Stücke 'Fresh from West Chester' festgestellt wird, ist kaum zu überhören. Der Untertitel 'Some Jazzings' rekurriert auf die amerikanische Modemusik der 1920er. Im Walzerrhythmus zeigt die sich die Musik beschwingt, jazzige Septakkorde geben eine reizvolle Färbung.
'Essay' I bis III heißen drei zyklische Stücke aus dem Jahre 1926, die aber erst 2010 veröffentlicht wurden. Allen drei gemeinsam ist, dass sie einen Umbruch zwischen jugendlicher und elaborierterer Tonsprache Barbers markieren. Zudem enthält der Titel den Zusatz ‚with monotonous emphasis troughout‘, der struktureller Hinweis und emotionale Vorgabe zugleich ist. Auffällig in den Essays I und II sind repetitive Elemente wie Akkorde und Wechselnoten. In Kombination mit der expressiven Harmonik erzeugen sie eine Atmosphäre klanglicher Distanz oder Distanziertheit (besonders im 'Essay I'). Vom atmosphärischen Hintergrund hebt sich eine zweite Ebene ab, die sich dialogisch dazu verhält. Nuti nähert sich den Werken feinfühlig und dezent und schafft trotz manch kleiner ausdruckssatter Ausbrüche im Werk eine kontrollierte Musikalität, die dem offensichtlich intellektualisierenden Stück Barbers gut steht.
In den zwei 'Interludes' aus den Jahren 1931/32 verfinstert sich die Musik. Zwischenspiele – das können Verbindungsstücke, Brücken, Füller, aber auch Ankündiger einer neuen Perspektive oder Spannungsräume zwischen Teilen sein, die Altes aufgreifen, Neues vorausahnen oder jeglichen Konnex verweigern. Barbers 'Interludes' I und II scheinen beide Möglichkeiten vereinbaren zu wollen. Die Besonderheit von Interludien ohne Kontext: Verbinde das Nichtvorhandene. Nutis volle expressive Kraft ist hier gefordert. Virtuos und mit Pathos, wählt Nuti eine Tongebung, die an Balladen Chopins erinnert. Verwandtschaften mit Chopin sind auch in den 'Interludes' nicht von der Hand zuweisen.
Die drei letzten Werke auf dieser Einspielung sind bekannter als die restlichen, zumal sie auch einen hohen kompositorischen Reifegrad zeigen. 'Souvenirs' op. 28 (1952), eine Sammlung von sechs Tänzen für zwei Klaviere 'After the Concert' (1965-70) und die letzte Komposition Barbers, die 'Ballade' op. 46, formen den zweiten Abschnitt des Spätwerks.
Die Pianistin Daniela De Santis tritt klanglich angepasst hinzu und gestaltet mit Nuti einen bunten Reigen lebhafter Tänze, die wie Mitbringsel phantasierter Reisen mal humorvoll irritierend und dissonant, mal einen bestimmten Stil nachahmend komponiert sind. Die Tanzsätze vereinen nord-, lateinamerikanische, europäische und russische Tanzmusikidiomatik. Witzig sprühend, aber auch empfindsam deutet sie das Duo, ohne verzerrte Unterhaltungsmusik daraus zu machen – obwohl Barber selbst den 'Souvenirs' ja das Bild von Unterhaltungsmusik in einem New Yorker Luxushotel der 10er-Jahre zuwies, so der Begleittext. Die Tempi der charakteristischen Tanzarten haben beide Interpreten durchwegs gut getroffen.
Auf 'After the Concert', einen Walzer, folgt die Ballade op. 46. Ursprünglich als Wettbewerbsstück in Auftrag gegeben, vereint das Stück kontrastierende Passagen. Wild, ungestüm, aber auch auffallend lyrisch gibt sich das circa fünfminütige Werk. Nuti sah den Gestus des Stücks dennoch anders. Mit rascherem Tempo übergeht er teilweise jene innig-mystischen Momente, welche die Ballade eigentlich so besonders und aufreibend machen. Als absolutes Gegenbeispiel und Referenzaufnahme sehe ich die Interpretation des amerikanisch Pianisten und Bekannten Barbers, John Browning, aus dem Jahre 1977. Browning gewährt der Musik mehr Raum: breites Rubato, veränderte Phrasierung, flexiblere Agogik und das damit einhergehende langsamere Grundtempo mit heftigeren Ausbrüchen stehen dem Balladengestus meiner Meinung nach besser. Mit dynamisch flexiblerer Gestaltung gibt Browning Organisches dort zurück, an dessen Stelle sich Nutis Interpretation hastig zeigt. Nuti findet indes, seriös und solide, zu einer unverfänglichen Klarheit der Gestaltung.
Die Einspielung ‚Souvenirs & Recollections‘ wartet mit innerer Ausgewogenheit und Konsistenz in Bezug auf die Interpretation auf. Besonderen Stellenwert hat die Platte jedoch dank der zahlreichen Ersteinspielungen sowie weitgehend unbekannter kleiner und kleinster Kompositionen des jungen Samuel Barber. Überzeugend ist die Interpretation der drei 'Essays' , der 'Interludes' I-II und der 'Souvenirs'op. 28 zusammen mit Daniela De Santis. Die Ballade kommt aus latenter Kurzatmigkeit nicht heraus, was klanglich spannende Momente verdeckt. Das Booklet ist gut strukturiert und leistet seine Dienste. Das Auge erfreuen historische Abbildungen von Manuskripten und historische Fotoaufnahmen. Leider sind die meisten Notenscans zu klein, um etwas darauf deutlich erkennen zu können. Schade. Aber dennoch: Barber-Fans, Fachleute und Liebhaber amerikanischer Musik des 20. Jahrhunderts dürfen diese Aufnahme keinesfalls auslassen.
Interpretation: Klangqualität: Repertoirewert: Booklet: |
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Detail-Informationen zum vorliegenden Titel:
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Barber, Samuel: Souvenirs & Recollections |
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Label: Anzahl Medien: Veröffentlichung: |
Stradivarius 1 10.01.2014 |
Medium:
EAN: |
CD
8011570339393 |
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Stradivarius Das 1988 gegründete Label STRADIVARIUS hat sich auf dem internationalen Markt als unabhängige Schallplattenfirma durchgesetzt, die vor allem auf zwei musikalische Gattungen spezialisiert ist: klassisch - aus der Renaissance und dem Barock - (mit der Reihe Dulcimer) und zeitgenössisch (mit der Reihe Times Future). Diese programmatische Entscheidung kommt aus dem Willen, eine ganz bestimmte und bezeichnende Rolle im heutigen Schallplattenumfeld zu spielen. Insbesondere hat STRADIVARIUS immer das Ziel verfolgt, den Vorrang italienischen Komponisten und Interpreten zu geben, um die bemerkenswertesten italienischen Kulturdarsteller auf aller Welt kennenlernen zu lassen. In einem weiten Bereich ist STRADIVARIUS tätig: geistige, säkulare, Vokal-, Instrumental-, Solo-, Kammer- und Orchestermusik. Es gibt viele Beispiele seltener Registrieren, die als außerordentliche Kunstwerke weltweit betrachtet werden, wie zum Beispiel die Serie Un homme de concert, die die Zusammenarbeit mit dem berühmten Sviatoslav Richter offiziell festgelegt hat. Was das zeitgenössische Repertoire betrifft, ist STRADIVARIUS im Laufe der Jahre, dank der Reihe Times Future, ein Bezugspunkt geworden, indem sie Werke von Franco Donatoni, Salvatore Sciarrino, Bruno Maderna, Goffredo Petrassi, Ivan Fedele, Luis De Pablo, Toshio Hosokawa und viele andere veröffentlicht hat. Bruno Canino, René Clemencic, Alan Curtis, Emilia Fadini, Monica Huggett, Lucas Pfaff, Arturo Tamayo, Maggio Musicale Fiorentino, Orchestra Sinfonica Nazionale della RAI, Orchestra Verdi di Milano, Orchestre Philarmonique de Radio France, Orquesta y Coro de Madrid: Sie sind nur einige der Musiker und Formationen, die CDs für STRADIVARIUS aufgenommen haben. Mit der Zeit ist das Bedürfnis entstanden, den Verlegervorschlag weiter zu diversifizieren; dadurch sind wichtige Reihen geboren, und zwar Guitar Collection (unter der Leitung von Frédéric Zigante), Ricordi Oggi (Ergebnis der Zusammenarbeit unter Stradivarius, dem Ricordi Universal Verlag und den Erben des Malers Emilio Tadini) und Milano Musica Festival (in Zusammenarbeit mit Milano Musica und RAI Radio3). Letzte in zeitlicher Reihenfolge ist die Landscape Serie, mit der STRADIVARIUS ihre Bereitschaft beweist, innovative Projekte zu verwirklichen. Mehr Info... |
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