
The Sacred Apocryphal Bach - The Apocryphal Bach Cantatas
Nähe und Ferne
Label/Verlag: cpo
Detailinformationen zum besprochenen Titel
Von Johann Sebastian oder nicht? Diese Frage mag Musikhistoriker beschäftigen, wichtig ist hier aber, dass die musikalische Umsetzung der versammelten apokryphen Bach-Vokalwerke kaum Wünsche offen lässt.
Wolfgang Helbich (1943–2013) gehörte mit seinem Alsfelder Vokalensemble zu den berühmtesten und profiliertesten Kammerchören im Bereich der historisch informierten Aufführungspraxis im letzten Viertel des 20. Jahrhunderts. Der langjährige Bremer Domkantor hatte ‚seinen‘ Chor 1971, zwei Jahre nach Antritt seiner Stelle als Kantor in Alsfeld gegründet, mit dem er schon bald beachtliche Erfolge erzielte. Die meisten seiner Einspielungen erfolgten für das Label cpo, und fast alle haben hohes und höchstes Lob durch die Presse errungen. An seinem 70. Geburtstag starb Wolfgang Helbich an den Folgen eines schweren Schlaganfalls.
Als ‚eigenwilligen Kollegen‘ würdigte Hermann Max, selbst ebenfalls Urgestein der historisch informierten Chororchestermusik, seinen ehemaligen Studienkollegen. Die hier in einer Box vorgelegten 8 CDs mit apokryphen Bach-Chorwerken entstanden im Zeitraum von zwanzig Jahren. Apokrypher Bach – was heißt das? Gemeint sind Werke, die vormals Bach zugeschrieben wurden, die aber mittlerweile aus dem Kanon der Bach-Werke entnommen wurden, weil sie durch stilistische oder quellenkundliche neue Erkenntnisse unzweifelhaft nicht vom ‚Allvater Bach‘ (Reger) stammen. Bei manchen Werken sind die tatsächlichen Komponisten mittlerweile bekannt – mehrfach taucht etwa der Name Georg Philipp Telemann auf –, in anderen Fällen ist bis heute unklar, wer der Schöpfer einiger Werke war. Auch heute noch kann man ohne Frage davon sprechen, dass manche Kompositionen Bachs ureigenstem Stil näher stehen als andere, bei anderen ist die Ferne offenkundig derart groß, dass man sich wundern muss, dass sie je dem 17. Leipziger Thomaskantor zugeschrieben waren.
1992 erschien die erste Doppel-CD der Reihe, sechs Kantaten, die im Bach-Werke-Verzeichnis mit den BWV-Nummern 217–222 bezeichnet worden waren. Mit Johanna Koslowsky, Kai Wessel und Phillip Langshaw waren damalige Stars der Alte Musik-Szene als Solisten verpflichtet. Der Niederländer Harry Geraerts gehört nicht ganz zu den geläufigen Namen, war aber in der zweiten Reihe ein zuverlässiger, gerne gebuchter Tenor (im Vergleich zu den drei anderen Solisten scheint er ein wenig anämisch und ist auch nicht so gut der deutschen Sprache mächtig). Die zweite und dritte der sechs Kantaten ('Gott der Hoffnung, erfülle euch' und 'Siehe, es hat überwunden der Löwe') sind Schöpfungen Telemanns, doch auch in den anderen Kantaten ist nicht etwa mangelhafte Qualität ein Merkmal der Musik. Die Kantate 'Gedenke, Herr, wie es uns gehet' scheint eindeutig der Bachnachfolge zu entstammen; von der Struktur her entspricht sie den beiden Telemann-Kantaten (ein Eingangschor und ein Schlusschoral umrahmen zwei Arien oder Rezitative und ein dazwischengeschaltetes Rezitativ oder Arie). Am musikalisch reichsten ist die Kantate 'Wer sucht die Pracht, wer wünscht den Glanz', deren Urheberschaft ebenso unklar ist wie 'Lobt ihn mit Herz und Munde'. Die abschließende Kantate 'Mein Odem ist schwach' ist die musikalisch vielleicht modernste der sechs – eine Komposition von Johann Sebastians Neffe Johann Ernst Bach (1722–1777), in der auf Rezitative gänzlich verzichtet wird und Soli und Chorsätze miteinander abwechseln. Das Alsfelder Vokalensemble vermittelt unmittelbar protestantische Devotion, das Instrumentalensemble Steintor Barock Bremen unterstützt die Sänger dezent, unaufdringlich und gerade dadurch insgesamt überzeugend (trotz einiger Unsauberkeiten in den Trompeten). Die Aufnahmetechnik versucht auch dein Raumeindruck einzufangen, hätte aber in manchen Momenten noch präsenter sein, das klangliche Erlebnis noch unmittelbarer abbilden können.
Zwei Jahre später legte Helbich seine nächste Produktion in der Reihe vor, diesmal die sechs unbegleiteten Motetten BWV Anh. 159–165. Die Autorschaft ist diesmal bunt gemischt, von Bach zusammen mit Telemann bei der umfangreichen ersten 'Jauchzet dem Herrn, alle Welt' über Johann Ernst Bach bei 'Unser Wandel ist im Himmel', Bachs Schüler und Schwiegersohn Johann Christoph Altnickol bei 'Nun danket alle Gott' und eines anderen Bachschülers Georg Gottfried Wagner bei 'Lob und Ehre und Weisheit' bis hin zu einem Bach-Vetter (‚di Eisenach‘) bei 'Merk auf, mein Herz und sieh dorthin'. Mindestens teilweise mag Bach wiederum Schöpfer der Motette 'Ich lasse dich nicht, du segnest mich denn' sein, auch wenn die Zuschreibung nicht ganz als gesichert gelten kann. Das Alsfelder Vokalensemble singt in bester Kammerchortradition – also vielleicht nicht unbedingt ganz stilecht (bei Kirchenmusik des Barock fehlen heutzutage allzu häufig die Chorknaben, um der Musik das typische Gepräge zu geben), doch in sorgsamer Farbenauslotung und feiner Dynamisierung. Auch hier bleibt der Klang durch die Aufnahmetechnik aber etwas unscharf, Textverständlichkeit wird durch die geringfügige Halligkeit der evangelischen Pfarrkirche Brotterode nicht unbedingt gefördert.
1997 erschien die apokryphe Lukaspassion BWV 246; durch eine von Johann Sebastian und Carl Philipp Emanuel Bach verfasstes Manuskript überliefert, wird dieses Werk heute als die Schöpfung eines mitteldeutschen Komponisten vermutlich der Generation Hasses und Grauns angesehen, die zu Aufführungszwecken kopiert worden war. Von den apokryphen Bach-Werken handelt es sich um die wohl am meisten gespielte größere Partitur, die auch Bach selbst außerordentlich wertgeschätzt hatte (am Ende des ersten Teils wird als Bonus Bachs eigene Bearbeitung des Schlusschorals geboten). Rufus Müller ist ein überzeugender Evangelist, der Bariton Stephan Schreckenberger ein vielleicht nicht ganz optimaler Sänger der Christusworte – etwas nasal, ohne wirkliche Kraft in der Stimme, dadurch gelegentlich etwas beiläufig klingend. Mona Spägele, Christiane Iven und Harry van Berne sind ein uneinheitliches Solistenquartett – Spägeles Sopran ist gelegentlich etwas unstet, die Linienführung etwas unruhig, Iven brilliert durch ausgezeichnete Phrasierung, vorbildliche Textverständlichkeit und warmen, expressiven Alt, van Berne einen sorgsamen, vielleicht etwas monochromen Tenor. Der Bassbariton Marcus Sandmann steuert zuverlässige kleine Soliloquentenpartien bei. Neben dem Alsfelder Vokalensemble, das hier involvierter, textverständlicher, emotional berührter, vor allem auch aufnahmetechnisch überzeugender eingefangen wirkt, ist das Barockorchester Bremen hier der heimliche Star der Einspielung – die Arien bieten reiche, teilweise ausgesprochen konzertante Ritornelle und Begleitung, die Instrumentalisten bieten angemessene Attacke und schön phrasierten, farbenreichen Goldgrund für die Vokalisten.
2001 entstanden zwei weitere CDs, eine mit zwei Messen und einem Magnificat (eine der beiden Messen stammt Francesco Durante), die zweite mit vier Kantaten, die früher dem Hauptkantatenkorpus des Bach-Werke-Verzeichnisses angehörten ('Uns ist ein Kind geboren' BWV 142, 'Das ist je gewißlich wahr' BWV 141, in Wirklichkeit von Telemann, 'Denn du wirst meine Seele nicht in der Hölle lassen' BWV 15, in Wirklichkeit von Johann Ludwig Bach, und 'Ich weiß, daß mein Erlöser lebet' BWV 160, wahrscheinlich ebenfalls von Telemann). Mit Dorothee Mields, Henning Voss, Henning Kaiser und Ralf Grobe ist abermals ein durchwachsenes Solistenquartett aufgeboten – am überzeugendsten ohne Frage Mields, mit herrlicher Jubelstimme und höchster Wärme und Präzision eine wahre Wonne, Voss ein Altus nur der zweiten Reihe, zuverlässig, aber nicht von nachhaltig positivem Eindruck, Kaiser ein allzu oft in den Registern nicht rundum ausgeglichen und immer wieder intonatorisch nicht ganz sicher, Grobe an manchen Stellen ausgesprochen grobkörnig und stimmlich nicht immer präzise anspringend. Den Instrumentalpart übernimmt diesmal I Febiarmonici, ein 1998 gegründetes, offenbar nur kurzlebiges, klanglich aber ausgesprochen reiches Ensemble, das das Alsfelder Vokalensemble zu klangschönem, aber vielleicht eine Spur zu kontrolliertem Ausdruck inspiriert.
Die letzte Folge der Reihe, 2009 eingespielt und erst 2012 veröffentlicht, enthält zwei kurze Messen, ein weiteres kurzes Magnificat, drei Sanctus und die Kantate 'Nach dir, Herr, verlanget mich' BWV 150. Die erste Messe und das Magnificat sind reiche doppelchörige Werke, in denen das Alsfelder Vokalensemble durch das Gesualdo Consort Amsterdam (Nele Gramss, Marnix De Cat, Harry van Berne, Harry van der Kamp) und ein Solistenquartett der Hochschule [für Künste] Bremen (Manja Stephan, Jan Moritz von Cube, Jan Hübner, Carsten Krüger) sowie die Hannoversche Hofkapelle unterstützt wird. Auch wenn sie Bach musikalisch äußerst fern stehen, so schätzte der Thomaskantor sie doch sehr und fertigte von dem Magnificat 1742 mit großer Sorgfalt eine Partitur an und erstellte das Aufführungsmaterial. Die zweisätzige zweite hier eingespielte Messe stammt von Johann Christoph Pez, die Kantate konnte erst 2010 überraschend eindeutig – Johann Sebastian Bach zugeschrieben werden. So ist diese letzte CD, auch wegen der überzeugenden Aufnahmetechnik und der rundum überzeugenden Gesamtleistung, ein würdiger Abschluss von Wolfgang Helbichs ‚Apokrypher Bach‘-Edition. Nur fehlt hier leider im Booklet – anders als in den anderen zumeist tadellosen, selbst im Libretto mehrsprachigen Begleitheften (bei einer CD wird einmal eine Stimmlage falsch zugewiesen, aber das ist zu vernachlässigen) – die entscheidende Information, wer denn die Soli in der Bachkantate singt.
Interpretation: Klangqualität: Repertoirewert: Booklet: |
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Detail-Informationen zum vorliegenden Titel:
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The Sacred Apocryphal Bach: The Apocryphal Bach Cantatas |
|||
Label: Anzahl Medien: Veröffentlichung: |
cpo 8 05.12.2013 |
Medium:
EAN: |
CD
761203787821 |
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Bach, Johann Sebastian |
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cpo Wohl kaum ein zweites Label hat in letzter Zeit soviel internationale Aufmerksamkeit erregt wie cpo. Die Fachwelt rühmt einhellig eine überzeugende Repertoirekonzeption, die auf hohem künstlerischen Niveau verwirklicht wird und in den Booklets eine geradezu beispielhafte Dokumentation erfährt. Der Höhepunkt dieser allgemeinen Anerkennung war sicherlich die Verleihung des "Cannes Classical Award" für das beste Label (weltweit!) auf der MIDEM im Januar 1995 und gerade wurde cpo der niedersächsische Musikpreis 2003 in "Würdigung der schöpferischen Leistungen" zuerkannt.
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