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Montag, 2. Oktober 2023

Fortner, Wolfgang - Bluthochzeit - DVD

Leben in der Utopie


Label/Verlag: WERGO
Detailinformationen zum besprochenen Titel


Dieser Mitschnitt von Wolfang Fortners noch vor einem halben Jahrhundert oftgespielter 'Bluthochzeit' ist musikalisch ansprechend, szenisch aber nicht vollauf überzeugend.

Blut und Erde – danach riechen Federico García Lorcas Dramen, mehr noch als sonst. Nach dem Krieg, in Folge eines regelrechten Booms seiner Bühnenwerke gerade in Deutschland wurde ‚Bluthochzeit‘ ein Standardwerk der deutschen Bühnen, und die musikalische Umsetzung war nur eine Frage der Zeit. 1950 schuf Wolfgang Fortner (1907–1987) Bühnenmusik zu dem Drama, in der Folge entstand 1956 die zweiaktige Oper, die nach ihrer Kölner Uraufführung 1957 zu den meistgespielten zeitgenössischen deutschen Opern gehörte (es gibt einen Fernsehmitschnitt der Stuttgarter Produktion unter Ferdinand Leitner und Günther Rennert aus dem Jahre 1964, mit Martha Mödl, Hans Günter Nöcker, Res Fischer und der Uraufführungsinterpretin Anny Schlemm). Doch schon bald wurde es still um Fortner, der musikalisch im Grunde die Tradition Alban Bergs fortführt. Jüngere Generationen avantgardistischer Komponisten verdrängten ihn mehr und mehr aus dem Fokus der Öffentlichkeit. Die Symphonischen Zwischenspiele aus der Oper blieben zuletzt das einzige, was auf dem Tonträgermarkt verfügbar war, bis vor sechs Jahren Profil Edition die WDR-Rundfunkproduktion mit der Uraufführungsbesetzung unter der Leitung Günter Wands veröffentlichte, entstanden fünf Wochen nach der Kölner Premiere.

So ist es umso verdienstvoller, dass Wergo nun die erste neuere DVD-Produktion der Oper vorlegt, entsprechend dem Anspruch des Labels mit umfangreichem, hochinformativem Begleitbuch (ohne Handlungszusammenfassung, aber mit komplettem Libretto, allerdings offenbar in der unveränderten Übersetzungsfassung von Enrique Beck, nicht in der faktisch vertonten Version). Schon die erste Seite des Booklets führt unmittelbar in die Inszenierung ein. Knappe Einlassungen Lorcas zu ‚Theorie und Spiel des Dämons‘ sind der eigentlichen Oper als eine Art Prolog vorangestellt – szenisch hinterlegt mit visuell ausgesprochen evokativen ersten Eindrücken, die bereits auf das Außerordentliche vorbereiten, was sich in den nächsten 132 Minuten ereignen wird. Wir erleben die Mutter, buchstäblich besessen von den Erinnerungen an den Verlust ihres Ehemannes, unfähig sie abzuschütteln. Wir sind in einem Plattenbau im Hier und Jetzt, die Mutter in der Kittelschürze. Wie anders und doch wie in der Intensität ähnlich agiert Dalia Schaechter im Vergleich zu Martha Mödl. Zwar hat Schaechter nicht ganz die vokalen Möglichkeiten Mödls, doch ist sie von der darstellerischen Ausstrahlung kaum weniger bezwingend. Auch sonst erleben wir immer wieder darstellerisch ausgesprochen dichte Momente, etwa den Streit zwischen Leonardo und seiner Familie (bei so viel Realismus wundert man sich aber, dass das Kleinkind auf dem Arm von Leonardos Frau oder ihrer Mutter nicht aufwacht und schreit). Allerdings fällt auch immer wieder auf, dass in den heiklen Momenten des Wechsels zwischen Sprechen, Sprechgesang und Gesang die musikalische Komponente bedenklich wackelt.

Die ‚Nachbarin‘ Lorcas und Fortners (hier in Personalunion mit einer anderen Rolle, Bettlerin/Tod) ist in der vorliegenden Produktion eine Obdachlose, mit großer Eindringlichkeit gespielt (aber nicht, wie teilweise gefordert, gesungen) von Ingeborg Wolff. Der Bräutigam (der Sohn der Mutter) ist zunächst in seinem Sprechpart eher noch etwas unprofiliert; das wäre ganz angemessen, würde Gregor Henze den geforderten rund zwanzig Lenzen entsprechen, doch bleibt die darstellerische Ausstrahlung ausbaufähig.

Mit großer warmer Altstimme gibt Cornelia Berger Leonardos Schwiegermutter, an manchen exponierten Stellen ähnlich überfordert wie Schaechter. Leonardos Frau (zunächst mit unnötigem Brautschleier bekleidet) bietet jugendfrischen Sopran und große Augen, Thomas Laske als Leonardo pafft Zigarre und ist mit seinem robusten Bassbariton intentional allenthalben zu laut (um gleich klar zu machen, dass er so verdorben ist wie es die Mutter von der Familie schon immer gemutmaßt hat; viele der von Lorca und Fortner intendierten Feinheiten gehen so verloren). Der Vater der Braut ist (anders als bei Lorca oder Fortner) kein weißhaarige Greis (wirklich der Vater der Braut?), sondern ein ebenfalls zu laut sprechender Alkoholiker mittleren Alters (Stephan Ullrich), der einem herzlich gleichgültig bleibt, selbst als Kuppler kein wirkliches Profil gewinnt. Die Durchtriebenheit der Braut vermittelt Banu Böke mit großer Unmittelbarkeit, mit guter Sopranstimme, doch verflacht Götz‘ (nicht Lorcas noch Fortners) Perspektive offenkundiger Durchtriebenheit die Schlussszene der Oper in hohem Maße – da wäre man mit weniger starken Andeutungen weiter gekommen. Dass die Braut und ihr Vater eine Magd haben könnten, ist in dieser Konstellation gänzlich unglaublich, und die Impertinenz der Magd (Joslyn Rechter – mit gut ansprechendem Mezzosopran und beachtlichen Zeichenfähigkeiten) täte ein Übriges, um diese Inkonsistenz innerhalb weniger Tage Beschäftigung durch Kündigung auszuräumen. Wie bei Charaktertenören leider allzu häufig, chargiert der Mond (Martin Koch) nicht nur vokal, sondern auch darstellerisch (sprich: er kommt daher als schlecht geschminkter Transvestit mit Handleuchte zur Beleuchtung seines Gesichts).

Durchaus problematisch ist Lorcas teilweise ausgesprochen metaphernreiche Sprache in Christian von Götz‘ erschaffenem Kosmos: Die Orte der Handlung scheinen unmöglich zu existieren, die Figuren, von denen gesungen wird, scheinen geradezu eine Utopie, Leonardos Pferd kaum mehr als eine Phantasmagorie, selbst dass wir in Spanien sind (nicht einem klischeehaften, aber einem wahrhaften, der Zeit und dem Werk angemessenen Spanien), ist mehr als unwahrscheinlich (am spanischsten wirkt ‚Der Dämon‘, eine choreografische Hinzufügung der Regie – Verena Hierholzer). Und so ergeben sich Brüche zwischen dem gesungenen Text und der Inszenierung, einfach weil die Regie wieder einmal eine unnötige Aktualisierung (wohl in Richtung der 1980er- oder 1990er-Jahre) bemüht, die im Grunde jetzt schon teilweise altbacken wirkt. Wenn Christian von Götz im Bookletinterview davon spricht, dass wir erst heute das Werk angemessen interpretieren könnten, ist dies eine leider weitverbreitete Hybris, die die Fähigkeiten und Fantasie der Theatermacher vor fünfzig Jahren hoffnungslos unter- und die eigenen ebenso gnadenlos überschätzt.

Mit den Inkonsequenzen und Inkonsistenzen in der Inszenierung ließen sich viele Seiten füllen; die Trennung zwischen erster und zweiter Hälfte der Oper haben Dirigent und Regisseur verändert (nun endet die erste Hälfte mit der Katastrophe nach der Hochzeit, der Flucht Leonardos mit der Braut zu Pferde. Hierzu waren musikalische Eingriffe erforderlich, die ein anderer Dirigent nicht toleriert hätte, die aber Hilary Griffiths, der alle Kräfte jederzeit umsichtig in der Hand hält (das bestens aufgelegte Sinfonieorchester Wuppertal spielt von hinter, nicht vor der Bühne, was die Sprechpassagen erleichtert), für legitim hält, hier aber in fataler Weise die Konzeption Fortners missversteht. Auch die Schlussszene der Oper wird gewissermaßen säkularisiert und verliert dadurch stark an Eindringlichkeit, die ganze Oper so fast aufs Beliebige degradiert.

Ergänzend sei darauf hingewiesen, dass das Mädchen (Annika Boos) alles andere als das von den Schöpfern intendierte unschuldige Mädchen ist, vielmehr eine aufgeweckte Göre, deren Naivität höchstens aufgesetzt ist; immerhin kann sie (wenn sie auch nicht wirklich jung klingt) beim Seilspringen Koloraturen singen. Die drei Holzfäller im Wald bei Nacht tragen Sonnenbrillen und leiern ihre Texte fast inhaltslos herunter (das Mädchen läuft zur Steigerung der Stimmung mit der portablen Nebelmaschine herum). Von Lorcas und auch Fortners surrealistischer Transzendierung bleibt nichts zurück als ein Schatten billigen Splatters. Was zuvor hinter die Bühne verlegt war – die Tötung des Bräutigams durch Leonardo (und vice versa) – wird hier ins orchestrale Zwischenspiel auf die Szene verlegt, um zu zeigen, dass auch die Tötung eines Menschen ein zutiefst intimer Akt ist.

Rein technisch ist die DVD-Produktion auf gutem, aber nicht überragendem Niveau – die Bildregie (Bassem Hawar) ist nicht immer ganz auf den Punkt, auch die Tontechnik ist an ein, zwei Stellen nicht ganz überzeugend gelöst.

Interpretation:
Klangqualität:
Repertoirewert: 
Booklet:





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Detail-Informationen zum vorliegenden Titel:



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    Fortner, Wolfgang: Bluthochzeit - DVD

Label:
Anzahl Medien:
Veröffentlichung:
Spielzeit:
WERGO
1
27.09.2013
132:00
Medium:
EAN:
BestellNr.:

CD
4010228080759
MV 8075


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WERGO

Als 1962 die erste Veröffentlichung des Labels WERGO erschien - Schönbergs "Pierrot lunaire" mit der Domaine musicale unter Pierre Boulez -, war dies ein Wagnis, dessen Ausgang nicht abzusehen war. Werner Goldschmidt, ein Kunsthistoriker, Sammler und Enthusiast im besten Sinne, war es, der - gemeinsam mit dem Musikwissenschaftler Helmut Kirchmayer - den Grundstein zu dem Label legte, das seit inzwischen 50 Jahren zu den führenden Labels mit Musik unserer Zeit zählt.
Noch immer hält WERGO am Anspruch, unter den Goldschmidt seine "studioreihe neue musik" gestellt hatte, fest: die hörende wie lesende Beschäftigung mit der neuen Musik anzuregen und in Produktionen herausragender InterpretInnen und von FachautorInnen verfassten ausführlichen Werkkommentaren zu dokumentieren.
Auf mehr als 30 Schallplatten kam die Reihe mit roter und schwarzer Schrift auf weißem Cover, dann wurde die Unternehmung zu groß für einen Einzelnen. Seit 1967 engagierte sich der Musikverlag Schott zunehmend für das Label, 1970 schließlich nahm Schott das Label ganz in seine Obhut. Seither wurden mehr als 600 Produktionen veröffentlicht, die ungezählte Preise erhalten haben und ein bedeutendes Archiv der Musik des 20. und 21. Jahrhunderts darstellen.
Kaum einer der arrivierten zeitgenössischen Komponisten fehlt im Katalog. Ergänzt wird dieser Katalog seit 1986 durch die inzwischen auf über 80 Porträt-CDs angewachsene "Edition Zeitgenössische Musik" des Deutschen Musikrats, die mit Werken junger deutscher KomponistInnen bekannt macht. Neben dieser Zusammenarbeit bestehen Kooperationen mit dem Zentrum für Kunst und Medientechnologie Karlsruhe ("Edition ZKM") und dem Studio für Akustische Kunst des Westdeutschen Rundfunks ("Ars Acustica"). Im Bereich "Weltmusik" kooperiert WERGO eng mit dem Berliner Haus der Kulturen der Welt und der Abteilung Musik des Ethnologischen Museums Berlin. Die "Jewish Music Series" stellt die vielfältigen Musiktraditionen der jüdischen Bevölkerungen der Kontinente in ihrer ganzen Bandbreite vor. Zahlreiche Veröffentlichungen mit Computermusik sind in der Reihe "Digital Music Digital" erschienen. Neue Editionen wie die legendäre "Contemporary Sound Series" des Komponisten Earle Brown oder die des Ensembles musikFabrik kamen in den vergangenen Jahren hinzu.
Die Diversifizierung, die das Programm von WERGO seit seiner Gründung erfahren hat, ist der Weitung des zeitgenössischen musikalischen Bewusstseins ebenso geschuldet wie sie zu dieser stets beitrug - eine Aufgabe, der sich WERGO auch in Zukunft verpflichtet fühlt.


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