
Joseph Haydn: Londoner Symphonien 7-9 - Capella Coloniensis unter Bruno Weil
Haydn hochindividuell
Label/Verlag: ARS Produktion
Detailinformationen zum besprochenen Titel
Die Ära der Hardcore-Historische-Aufführungspraxisfetischisten ist vorbei, Gott sei Dank. Und man pflegt derzeit wieder einen entspannteren Umgang mit der Musik von Joseph Haydn. So wie Bruno Weil mit der Capella Coloniensis.
Es war Leonard Bernstein, der einst erklärte, dass die sogenannten Londoner Symphonien Haydns die perfektesten Symphonien überhaupt seien – bei ihnen stimme einfach alles. Womit er vollkommen Recht hat. Das Resultat? Die Stücke erfreuen sie sich seit über 200 Jahren einer enormen Popularität, was übersetzt bedeutet, dass es unzählige hervorragende Aufnahmen von ihnen gibt, historische wie moderne. Das gilt besonders für die großen Haydn-Hits: Nr. 99 in Es-Dur, die ‚Militär-Symphonie‘ Nr. 100 in G-Dur und ‚Die Uhr‘ Nr. 101 in D-Dur, mit dem tickenden 'Andante'. Diese drei Werke aus den Jahren 1793/94 finden sich hier nun abermals eingespielt , als Mitschnitt aus dem Alfred-Krupp-Saal der Philharmonie Essen.
Was sofort auffällt, ist das bewusst ausgedünnte Klangbild: relativ wenige und zudem vibrato-arme Streicher, dominante und präsente Holzbläser, aggressiv gesetzte Akzente, besonders im Blech. Dadurch, dass der Krupp Saal eine eher nüchterne Akustik bietet und ein recht großer Raum ist – verglichen mit dem Saal in London, für den die Werke geschrieben wurden –, wirken etliche Tutti-Passagen fast hart im Klang. Man könnte auch sagen, ihnen fehlt ein wärmender Nachhall, der solch reduziertes Streicherspiel und solch trocken gesetzte Akzente einigermaßen ausbalancieren würde. Auch hätte eine intimere Akustik das berühmte Holzbläserspiel dieser Symphonien vermutlich eindrucksvoller eingefangen – was vorteilhaft gewesen wäre, weil die Holzbläser der Capella Coloniensis durchweg eindrucksvoll sind und glanzvolle Einzelleistungen bieten. Wen solche akustischen Details nicht stören, der kann sich hier an einer rundum lebendigen und vielfach vorwärtsstürmenden Interpretation erfreuen, die mit großer Spielfreude präsentiert wird, Knalleffekte inklusive.
Obwohl ich die Neuaufnahme von Anfang bis Ende mit echter Neugierde gehört habe und viele interpretatorische Details extrem spannend fand, kann die Einspielung für mich nicht die alte Aufnahme mit der Philharmonia Hungarica unter Antal Dorati als First Choice ersetzen. Denn der Gesamthöreindruck ist dort üppiger, sonorer und sinnlicher, was besonders an den klangprächtigeren Streichern liegt. Das gilt übrigens auch für die Aufnahme mit Bernstein. Da haben die Streicherpassagen einen Schwung und eine Brillanz, die mir hier fehlt, besonders im ersten Satz der Symphonie Nr. 99, aber nicht nur dort. Mag sein, dass Bernsteins Sicht Haydns historisch nicht ganz korrekt ist und man 1793/94 niemals mit so viel Vibrato in den Streichern spielte, aber man spielte damals auch nicht in einem großen modernen Konzertsaal mit seinen akustischen Eigenheiten. Dennoch ist der Klang hier glasklar eingefangen und in seiner Coolness immer durchsichtig, was erwähnt sei, damit keine Missverständnisse entstehen.
Als Bonus gibt’s eine zweite CD, auf der Bruno Weil vor Live-Publikum die Symphonien erläutert, was 37 Minuten Spieldauer beansprucht und eingestreute Musikbeispiele mit vollem Orchester beinhaltet. Viele Details dieser biografisch fundierten Erläuterungen sind wirklich packend – wenn man sie zuerst hört, wird man viele der eher aggressiven, teils derben, teils wilden Passagen in den Symphonien à la Weil anschließend ganz anders hören. Was reizvoll ist, keine Frage, und einer echten Neuentdeckung der Stücke gleichkommt. Dennoch kommt die allgemeingültige Schönheit der Musik bei Dorati – für mich – besser zur Geltung, obwohl Weil in unzähligen Details deutlich mehr zu erzählen hat. Eine seltsame Erfahrung, die dafür sorgt, dass man diese CD mindestens einmal hören sollte. Und dann selbst entscheiden muss, ob man absolute Klangschönheit will – oder eine fast an Gustav Mahler erinnernde Intimausdeutung. Ich selbst schwanke zunehmend.
Interpretation: Klangqualität: Repertoirewert: Booklet: |
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Detail-Informationen zum vorliegenden Titel:
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Joseph Haydn: Londoner Symphonien 7-9: Capella Coloniensis unter Bruno Weil |
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Label: Anzahl Medien: Veröffentlichung: |
ARS Produktion 2 04.10.2013 |
Medium:
EAN: |
CD SACD
4260052380635 |
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Haydn, Joseph |
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