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Montag, 25. September 2023

Brahms, Johannes - Sämtliche Klavierwerke Vol. 4

Vom Bombast befreit


Label/Verlag: MDG
Detailinformationen zum besprochenen Titel


Auch die vierte Folge von Hardy Rittners Brahms-Reihe lässt die Musik durch die faszinierenden Klangmöglichkeiten historischer Flügel aus dem 19. Jahrhundert neu erblühen.

Jede Einspielung der Klavierwerke Johannes Brahms‘ muss sich hochkarätiger Konkurrenz stellen. Nun wurden bislang nahezu alle Einspielungen des jungen Pianisten Hardy Rittner, der sich von Chopin bis Schönberg um historisch informierte Aufführungspraxis verdient gemacht hat, auf dieser Seite in höchsten Tönen gelobt, und der Rezensent kann hiervon keine Ausnahme machen. Vom ersten Takt der Rhapsodien op. 79 befreit Rittner die Musik von ‚modernistischem‘ Konzertflügelbombast; wir haben Musik, die ganz in der Tradition des 19. Jahrhunderts steht und doch mit ihrer Eigenart weit nach vorne zeigt.

Rittners Brahms bietet eine musikalische Intimität und Klarheit, die auf dem Konzertflügel nur die ganz Großen erreicht haben, doch gelingt ihm diese Durchhörbarkeit nicht zuletzt durch die Wahl der passenden historischen Instrumente – im vorliegenden Fall einem Streicher-Flügel von 1868 für die Rhapsodien op. 79 (1879) und die Klavierstücke op. 76 (1871-8, einer Sammlung von Capricci und Intermezzi), einem Streicher-Instrument von 1856 für die berühmten Walzer op. 39 (1865) und einem klanglich gänzlich anders gearteten Bösendorfer-Flügel von 1846 für das Scherzo es-Moll op. 4 (1851). Doch kann Rittner noch weit mehr bieten: Farbschattierungen und warme Fortissimo-Steigerungen, die nie knallig geraten. Die Mittelstimmen werden fein ausgearbeitet, die tiefen Register runden volltönend-warm den Gesamteindruck. Wer die pompösen Steinway-Einspielungen mancher Podiumsgrößen zum Vergleich heranzieht, wird überrascht sein über die zahlreichen, scheinbar ganz neuen Innenstimmen, die auf den sorgsam ausgewählten Instrumenten den Komponisten ‚erblühen‘ lassen.

Das dritte Klavierstück aus op. 76 hat eine warme Piano-Brillanz und gleichzeitig farbliche Delikatesse, die ihresgleichen sucht, die selbst Klassiker der Diskografie alt aussehen lässt. Die Walzer strahlen intimen Charme und Wärme aus, ohne ihren konzertanten Charakter komplett abzustreifen. Ein Autorenkollege dieses Magazins hat den Begriff vom ‚Brahms in Farbe‘ herangezogen, doch ist es meines Erachtens noch mehr – wir haben hier einen Brahms, der sich nicht in die Aufführungstradition seit dem Zweiten Weltkrieg einreihen muss, sondern einen, wie das zu Beginn der Einführung der Historisierenden Aufführungspraxis hieß, ‚schlackenlosen‘ Zugriff bietet; selbst die leicht wabernd klingenden Piano-Strukturen kurz vor Ende des ersten Stückes aus op. 76 kommt in ungeahnter Klarheit daher. Man hat das Gefühl, der Firnis eines ganzen Jahrhunderts wurde sorgfältig entfernt und mit liebevoller Sorgfalt vorsichtig erneuert – nicht zu Lasten der interpretatorischen Frische, sondern ganz in einer Linie mit den Größten der historisch informierten Pianofortekultur, einem Andreas Staier oder Tobias Koch etwa. Das soll nicht heißen, dass Rittner ein ‚Pedalfeind‘ wäre (im sechsten Klavierstück etwa findet er gerade die rechte Balance zwischen Verunklarung und Pointiertheit); vor allem aber weiß er die Qualitäten der einzelnen Instrumente auf das Optimalste einzusetzen, so dass der Hörer auf eine Reise durch die Musikzimmer des 19. Jahrhunderts mitgenommen wird, in denen man sich intelligent über Literatur, Kunst und Musik unterhalten konnte.

Der Booklettext ist deutlich bemüht, das Besondere der Brahms’schen Musik herauszuarbeiten, doch stammt er eindeutig von keinem der ganz großen Brahmsianer; hierdurch bleibt er um entscheidende Nuancen zu nüchtern und wenig inspiriert – mit der Interpretation mitzuhalten, kann ihm allein schon aufgrund der enormen pianistischen Leistung nicht gelingen. Die Aufnahmetechnik ist vom Surroundaspekt her außerordentlich, im Stereomodus gerät das Instrument etwas zu ‚raumorientiert‘, die Mikrofonierung nicht unmittelbar genug – ein nicht neues Problem bei Hybrid-Tonträgerpublikationen. Nicht zu vergessen sei ein Lob an den Klavierstimmer, der gerade bei historischen Instrumenten eine nicht zu unterschätzende Größe ist.

Für mich war der Name Hardy Rittner neu, obschon der 1981 Geborene bereits bei der vierten Folge seiner Brahms-Edition angelangt ist. Ich freue mich schon darauf, weitere (SA)CDs des begabten Newcomers zu erkunden, und würde mich glücklich schätzen, wenn er sich auch einmal der Musik etwa Max Regers annehmen würde, der für seinen kultivierten, warmen Anschlag berühmt war und mit dem Rittner möglicherweise eine Wesensverwandtschaft verbindet.

Interpretation:
Klangqualität:
Repertoirewert: 
Booklet:






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Detail-Informationen zum vorliegenden Titel:



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    Brahms, Johannes: Sämtliche Klavierwerke Vol. 4

Label:
Anzahl Medien:
Veröffentlichung:
MDG
1
05.06.2013
Medium:
EAN:

SACD
760623181066


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MDG

Die klangrealistische Tonaufnahme

»Den beim Sprechen oder Musizieren entstehenden Schall festzuhalten, um ihn zu konservieren und beliebig reproduzieren zu können, ist eine Idee, die seit langem die Menschen beschäftigte. Waren zunächst eher magische Aspekte im Spiel, die die Phantasie beflügelten wie etwa bei Giovanni deila Porta, der 1598 den Schall in Bleiröhren auffangen wollte, so führte mit fortschreitender Entwicklung naturwissenschaftlichen Denkens ein verhältnismäßig gerader Weg zur Lösung...« (Riemann Musiklexikon)

Seit Beginn der elektrischen Schallaufzeichnung ist der Tonmeister als »Klangregisseur« bei der Aufnahme natürlich dem Komponisten und dem Interpreten, aber auch dem Hörer verpflichtet. Die Mittel zur Tonaufzeichnung sind hinlänglich bekannt. Die Kriterien für ihren Einsatz bestimmt das Ohr. Deshalb für den Hörer hier eine Beschreibung unserer Hörvorstellung.

Lifehaftigkeit

In der Gewißheit, daß der Konzertsaal im Wohnzimmer (leider) nicht realisierbar ist, konzentriert sich unser Bemühen darauf, die Illusion einer Wirklichkeit zu vermitteln. Die Musik soll im Hörraum so wiedererstehen, daß spontan der Eindruck der Unmittelbarkeit entsteht, das lebendige Klanggeschehen mit der ganzen Atmosphäre der »Lifehaftigkeit« erlebt wird. Da wir praktisch ausschließlich menschliche Stimmen und »klassische« Instrumente - auch sie haben ihren Ursprung im Nachahmen der Stimme - aufnehmen, konzentriert sich unsere Klangvorstellung auf natürliche Klangbalance und tonale Ausgeglichenheit im Ganzen, und instrumentenhafte Klangtreue im Einzelnen. Darüber hinaus natürliche, ungebremste Dynamik und genaueste Auflösung auch der feinsten Spannungsbögen. Weitestgehend bestimmend für die Illusion der Lifehaftigkeit ist auch die Ortbarkeit der Klangquellen im Raum: freistehend, dreidimensional, realistisch.

Musik entsteht im Raum

Um diesen »Klangrealismus« einzufangen, ist bei den Aufnahmen von MDG eine natürliche Akustik unbedingte Voraussetzung. Mehr noch, für jede Produktion wird speziell in Hinblick auf die Besetzung und den Kompositionsstil der passende Aufnahmeraum ausgesucht. Anschließend wird »vor Ort« die optimale Plazierung der Musiker und Instrumente im Raum erarbeitet. Dieser ideale »Spielplatz« ermöglicht nun nicht nur die akustisch beste Aufnahme, sondern inspiriert durch seine Rückwirkung die Musiker zu einer lebendigen, anregenden Musizierlust und spannender Interpretation. Können Sie sich die Antwort des Musikers vorstellen auf die Frage, ob er lieber in einem trockenen Studio oder in einem Konzertsaal spielt?

Die Aufnahme

Ist der ideale Raum vorhanden, entscheidet sich der gute Ton an den Mikrofonen - verschiedene Typen mit speziellen klanglichen Eigenheiten stehen zur Auswahl und wollen mit dem Klang der Instrumente im Raum in Harmonie gebracht werden. Ebenso wichtig für eine natürliche Abbildung ist die Anordnung der Mikrofone, damit etwa die richtigen Nuancen in der solistischen Darstellung oder die Kompensation von Verdeckungseffekten realisierbar werden. Das puristische Ideal »nur zwei Mikrofone« kann selten den komplexen Anforderungen einer Aufnahme mit mehreren Instrumenten gerecht werden. Aber egal wie viele Mikrofone verwendet werden: Stellt sich ein natürlicher Klangeindruck ein, ist die Frage nach dem Zustandekommen des »Lifehaftigen« zweitrangig. Entscheidend ist, es klingt so, als wären nur zwei Mikrofone im Spiel.

Ohne irgendwelche »Verschlimmbesserer« wie Filter, Limiter, Equalizer, künstlichen Hall etc. zu benutzen, sammeln wir die Mikro-Wellen übertragerlos in einem puristischen Mischpult und geben das mit elektrostatischem Kopfhörer kontrollierte Stereosignal linear und unbegrenzt an den AD-Wandler und zum digitalen Speicher weiter. Dadurch bleiben auch die feinsten Einschwingvorgänge erhalten. Auf der digitalen Ebene wird dann ohne klangmanipulierende Eingriffe mit dem eigenen Editor in unserem Hause das Band zur Herstellung der Compact Disc für den Hörer erstellt, für Ihr hoffentlich großes Hörvergnügen.


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