
Schumann, Robert - Klavierwerke
Schumann-Weiterungen
Label/Verlag: Challenge Classics
Detailinformationen zum besprochenen Titel
Michael Gees nutzt Klavierwerke von Robert Schumann als Sprungbrett improvisierender Phantasie. Das Ergebnis überzeugt, weil er Tendenzen aufgreift und verstärkt, die in Schumanns Musik bereits vorhanden sind.
Man wird in unseren Tagen wohl kaum einen Musiker im Bereich der klassischen Musik finden, der sich nicht als Diener des Komponisten versteht. Wie ein Mantra wird ständig wiederholt, dass es zuvorderst darum gehe, die Musik so aufzuführen, wie es der Komponist – vermeintlich – wollte und der Interpret hinter den Komponisten und das Werk zu treten habe. Wieso eigentlich? Etwas ketzerisch könnte man auch fragen: Gibt es eine moralische Verpflichtung, Werke nur so aufzuführen, wie sie, nach bestem Wissen und Gewissen aus der Sicht der Gegenwart beurteilt, ihr Schöpfer dargestellt wissen wollte? In den meisten Fällen ist der Komponist längst tot, warum also die Verpflichtung ihm und dem Werk gegenüber? Wäre es nicht mindestens ebenso lohnenswert und naheliegend, sich primär den Zuhörern von heute verpflichtet zu fühlen? (Beides muss sich freilich nicht ausschließen.)
Kommt hinzu, dass man den (vermeintlichen) Willen des Komponisten im Notentext sedimentiert sieht. Werktreue schrumpft folglich auf Texttreue: Man wird dem Komponisten angeblich dadurch gerecht, dass man genau so spielt wie geschrieben – und was nicht dasteht, wird wohl auch nicht gewollt sein. Eine solche Sicht aber ist die des 20. Jahrhunderts und damit eigentlich auch nur auf die Musik des 20. Jahrhunderts anwendbar. Denn was für die sogenannte Alte Musik mit ihren improvisatorischen Anteilen umso mehr gilt, hat auch für die Musik des 19. Jahrhunderts Bestand: Notiert ist das, was ein Komponist für unerlässlich hielt. Aber ist noch lange nicht das, was er hören wollte. Denn einzurechnen sind aufführungspraktische und vortragsästhetische Rahmenbedingungen, von denen ein Komponist ausgehen konnte. Mit einer sklavischen Befolgung des Notentextes ist es also nicht getan – außer man verfolgt das Ziel, Ansichten des 20. Jahrhunderts auf jede andere Musik zu übertragen.
Abweichungen vom Notentext sind in unserer Interpretationskultur auf ein Minimum beschränkt; sie beziehen sich aufs Tempo und dessen Modifikationen, auf dynamische Nuancen, auf Farbwerte und manches mehr. Wer Gepflogenheiten des 19. Jahrhunderts aufgriffe und in einem Klavierrecital von einer Sonate zur anderen improvisierend hinüberführte, würde Erstaunen hervorrufen, wahrscheinlich auch Kritik ernten. Der Pianist Michael Gees, der in den letzten Jahrzehnten vor allem als Liedbegleiter positiv auf sich aufmerksam gemacht hat, geht noch einen Schritt weiter: Er nutzt klassische Vorlagen und lässt sich, von ihnen ausgehend, improvisierend hinwegtragen. Gees hat das vor Kurzem bereits mit einer ‚ImproviSatie‘ genannten Platte erprobt. Nun hat er sich Schumann vorgenommen. Bei Challange Classics ist nun das Ergebnis, eine Doppel-SACD mit dem Titel ‚beyond schumann‘, erschienen. Ausgestattet ist die Produktion mit einer Polemik aus der Feder des Pianisten, die manches Richtige enthält, aber teils auch übers Ziel hinausschießt.
Als Sprungbrett seiner Schumann-Weiterungen nutzt Michael Gees die 'Symphonischen Etüden' op. 13, die 'Kinderszenen' op. 15 sowie die 'Kreisleriana' op. 16; als Zugabe gibt es noch den 'Vogel als Prophet' aus den 'Waldszenen' op. 82. Intakt bleibt die Satzfolge der Klavierzyklen, doch wechselt die improvisatorische Ausgestaltung von Satz zu Satz in Ausmaß und Entfernung zum Schumannschen Ausgangspunkt. Michael Gees lässt sich von den charakteristischen Elementen von Schumanns (Klavier-)Musik insgesamt, aber auch von speziellen Stimmungen und Konstellationen der einzelnen Sätze leiten und erweitert ‚im Geiste Schumanns‘, was ihn je und je besonders anregt. So wird etwa der manische Zug zu Punktierungen und das damit hervorgerufene Hastige, Überstürzte von Gees weiterentwickelt. Manchmal lässt er sich verselbständigen; das endet dann in Punktierungs-Orgien. Manchmal sind es Zwischenakzente, die wie Widerhaken den Ablauf bremsen, Unwucht produzieren, Linien aufbrechen, an anderer Stelle führt Gees harmonische Modelle weiter und wühlt sich tief in eine Musik hinein, aus der es kein Entkommen zu geben scheint. Nicht selten arbeitet Gees mit harmonischen Erweiterungen sowie Ausweitungen des Klaviersatzes. Da erzielt er zuweilen ‚russische‘ Vollgriffigkeit oder kommt unversehens bei akkordischer Aquarellistik heraus, die dem französischen Impressionismus nahesteht. Am Ende der 'Symphonischen Etüden' sind es dagegen Harmonien, die man aus dem Jazz unserer Zeit kennt.
Das Ergebnis ist spannend, öffnet abenteuerliche Hörwege und ist in der Mischung von kurzen Abwegen vom Schumannschen Original und längeren Bergtouren gelungen. Vor allem aber überzeugen die improvisatorischen Weiterungen, weil sie Tendenzen verstärken und entfalten, die in Schumanns Musik enthalten sind. Gees stülpt dieser Musik nichts über, sondern spürt ihren Triebkräften nach – freilich sehr individuell und aus der Position eines Musikers am Anfang des 21. Jahrhunderts.
Nicht so gelungen ist hingegen die klangliche Seite, und das meint in diesem Fall: die Anschlagsdifferenzierung des Pianisten. Das Klavier wirkt durchweg auffallend hell und obertonreich, manchmal sogar ziemlich spitz. Man hat den Eindruck, als stehe hier im Zentrum, was gespielt wird, nicht in gleicher Weise aber, mit welcher Farbschattierung dieser ‚musikalische Inhalt‘ angereichert wird. Das wäre allerdings wünschenswert, ist doch das Kolorit ein zentraler Aspekt der Klavierwerke von Schumann und damit ein weiterer potentieller Ausgangspunkt für Gees‘ improvisatorische Weiterungen.
Interpretation: Klangqualität: Repertoirewert: Booklet: |
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Detail-Informationen zum vorliegenden Titel:
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Schumann, Robert: Klavierwerke |
|||
Label: Anzahl Medien: Veröffentlichung: |
Challenge Classics 2 10.05.2013 |
Medium:
EAN: |
SACD
608917259728 |
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