
Dvorak, Antonin - Stabat Mater op. 58
Innige religiöse Empfindung
Label/Verlag: Phi
Detailinformationen zum besprochenen Titel
Philippe Herreweghe bereichert mit dieser Neueinspielung die nicht allzu umfangreiche Diskographie von Dvořáks 'Stabat Mater'. Man wird wohl nur selten eine Einspielung finden, die bei Solisten, Chor und Orchester eine solche Qualität aufbieten kann.
Als Philippe Herreweghe vor wenigen Jahren sein eigenes Label Phi ins Leben rief, geschah das mit dem Ziel, ein diskographisches Vermächtnis jener Werke zu hinterlassen, die seiner Ansicht nach zu den Gipfelwerken der Musikgeschichte gehören. Das Spektrum der bisher erschienenen Veröffentlichungen ist denkbar breit; es reicht von Tomás Luis de Victoria bis zu Gustav Mahler. Nun hat Herreweghe eine neue Folge vorgelegt – mit einem Werk, das nur wenige andere Interpreten zu den herausragenden Meilensteinen zählen: Antonín Dvořáks 'Stabat Mater'. Nur Harnoncourt dürfte mit Herreweghe in der Bewertung dieser großen Kantate für vier Solostimmen, Chor, Orchester und Orgel übereinstimmen.
Heutzutage wird Dvořáks 'Stabat Mater' nur sehr selten aufgeführt, obgleich es zu Lebzeiten des Komponisten zu seinen beliebtesten Werken gehörte. Es begründete Dvořáks großen Erfolg in England, und von seinen eigenen Werken hat der Komponist keines öfter dirigiert als das 'Stabat Mater'. Schenkt man bis heute kolportierten biographistischen Deutungen des Entstehungshintergrundes Glauben, so komponierte Dvořák die zehnsätzige Trauermusik anlässlich der kurz aufeinanderfolgenden Todesfälle seiner drei erstgeborenen Kinder. Jüngere Forschungen, die im vorbildlichen Beihefttext von Herreweghes Neueinspielung skizziert werden, zeigen indes, dass die Komposition schon zu einem früheren als dem bislang angenommenen Zeitpunkt ausgearbeitet war. Den unmittelbaren Kontext für das Aufgreifen der lateinischen Mariensequenz aus dem 13. Jahrhundert bietet eher Dvořáks Tätigkeit als Organist an einer Prager Kirche, die den Ideen cäcilianischer Kirchenmusikerneuerung nahestand.
Musikalische Trauermeditationen sehen sich dem Problem gegenüber, eine Folge von langsamen Sätzen einheitlicher Stimmung kompositorisch abwechslungsreich zu gestalten. Das gilt für Vertonungen der sieben letzten Worte Jesu am Kreuz wie für die Mariendichtung des ‚Stabat Mater‘. Dvořák begegnete dieser Schwierigkeit, indem er nicht nur immer wieder Lichtstrahlen der Hoffnung einwebt, sondern seiner Musik zuweilen eine fast tänzerische Beschwingtheit verleiht. Dem Kritiker Eduard Hanslick war diese Musik zu sinnlich und diesseitig. Herreweghe begegnet diesen Tendenzen mit Zurückhaltung: Momente der Aufhellung werden liebevoll herausgearbeitet, die bei Übertreibung ins Rührselige kippenden Momente behandelt er indes geschmackvoll, nobel und mit feiner Dosierung.
Ein Großteil von Dvořáks 'Stabat Mater' spielt sich in Piano-Regionen ab. Hier die Spannung zu halten, ohne dynamisch übers Ziel hinauszuschießen, ist eine große Herausforderung – die allerdings das exzellente Collegium Vocale Gent bravourös meistert. Der Chor begeistert in allen Registern, von den wunderbar leichten, manchmal fast schwerelos wirkenden Sopranen bis zum profunden Bass, der allerdings nie ins Dröhnen gerät. Herreweghe findet eine genau passende Mischung aus klarer Textdeklamation und freiem melodischen Strömen. Die vielen Diminuendi in Dvořáks Partitur, die eine Verdickung des Klangs durch zu viel Sostenuto verhindern, setzt Herreweghe zwar nicht sklavisch, aber doch feinfühlig und sinnvoll um. Auch die von Dvořák sehr differenziert notierten Akzente werden mit der richtigen Dosis als Impulse in die kantablen Phrasen eingewoben. Herreweghe wählt flüssige Tempi, geht aber, sachte Zäsuren setzend und Abschnitte weich verbindend, mit der Musik weitaus liebevoller um als jüngst Neeme Järvis in seinem knochentrockenen, blutleeren Geschwinddurchgang durch Dvořáks 'Stabat Mater'.
Auch diesmal hat Philippe Herreweghe bei der Auswahl der Solisten ein glückliches Händchen bewiesen. Ilse Eerens (Sopran), Michaela Selinger (Mezzosopran), Maximilian Schmitt (Tenor) und Florian Boesch (Bass) bilden ein herrlich gefühlvoll agierendes Solistenquartett, das zudem – der meisterlichen Klangtechnik sei Dank –in einer ausgesprochen guten Balance zu Orchester und Chor steht. Einzelne Glanzleistungen hervorzuheben, ist aufgrund der insgesamt hohen Qualität kaum möglich; doch sei hier auf Florian Boeschs ungemein sensible Einfärbung seines strahlenden Basses hingewiesen, der in 'Fac, ut ardeat cor meum' hinreißt. Maximilian Schmitts sehr heller Tenor fällt aus dem Quartett klangfarblich ein wenig heraus, kann aber in den Soloauftritten stark für sich einnehmen.
Philippe Herreweghe bereichert mit dieser Neueinspielung die nicht allzu umfangreiche Diskographie von Dvořáks 'Stabat Mater'. Man wird wohl nur selten eine Einspielung finden, die in allen drei Bereichen – Solisten, Chor und Orchester – eine solch hohe Qualität aufbieten kann. Allenfalls Harnoncourts recht junge Einspielung bewegt sich auf ähnlicher Höhe.
Interpretation: Klangqualität: Repertoirewert: Booklet: |
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Detail-Informationen zum vorliegenden Titel:
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Dvorak, Antonin: Stabat Mater op. 58 |
|||
Label: Anzahl Medien: Veröffentlichung: |
Phi 1 01.04.2013 |
Medium:
EAN: |
CD
5400439000094 |
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Phi Der griechische Buchstabe φ (PHI - die Übereinstimmung mit den Initialen von Philippe Herreweghe ist nicht ganz zufällig) versinnbildlicht die Ambitionen des Labels. Er ist das Symbol für den goldenen Schnitt, für die Perfektion, die man in den Staubfäden der Blumen findet, für griechische Tempel, Pyramiden, Kunstwerke der Renaissance oder für die Fibonacci-Zahlenfolge. Seit der frühesten Antike steht dieser Buchstabe im eigentlichen Sinne für Kontinuität beim Streben nach ästhetischer Perfektion. Mehr Info... |
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