
Bach, Johann Sebastian - Matthäus-Passion
Solide Matthäus-Passion aus dem Concertgebouw
Label/Verlag: Arthaus Musik
Detailinformationen zum besprochenen Titel
Unter der Leitung des ungarischen Dirigenten Iván Fischer ist im Concertgebouw in Amsterdam 2012 eine grundsolide Aufnahme von Bachs Matthäus-Passion entstanden. Viel Neues bietet die Aufnahme jedoch nicht.
Direkt zu Beginn des Films, noch bevor die Musik beginnt, kann der passionserprobte Konzertbesucher eine kleine Überraschung erleben. Den auftretenden Vokalsolisten und dem Dirigenten folgt der Kinderchor, der sich Halbkreisförmig direkt und unmittelbar um den Maestro versammelt. Es vergehen nur wenige Sekunden des Innehaltens, dann hebt Iván Fischer seine Hände und gibt den Einsatz zum ruhig pulsierenden Eingangschor 'Kommt ihr Töchter, helft mir klagen' – immer wieder ergreifend! Durch die unkonventionelle Aufstellung des Kinderchors erhalten die Choralzeilen des cantus firmus 'O Lamm Gottes unschuldig' eine besondere Fokussierung, der Satz strahlt dadurch eine höheres Maß an Intimität aus.
Im Zentrum des Geschehens steht indes Fischer und dirigiert über die Köpfe der Kinder hinweg die beiden räumlich konsequent voneinander getrennten Ensembles. Oft werden beide Ensembles aus Gründen der Praktikabilität dicht nebeneinander positioniert, wie etwa im DVD-Mitschnitt der Thomaner aus dem gleichen Jahr. Einen hochinteressanten akustischen Aufbruch dieser Tradition hat jüngst René Jacobs vorgelegt. Auch Iván Fischer begreift die Matthäus-Passion als eine besondere Art von Raummusik, indem er zwischen beiden Klangkörpern auf der Bühne mehrere Meter Platz schafft – immerhin!
Ist der Kinderchor aber erst einmal abgetreten, steht Iván Fischer allein auf weiter Flur – die Kehrseite der Medaille einer Bühne, die in der Mitte unbesetzt ist. Die Performance leidet darunter jedoch nicht. Nur an den Anblick eines vor leeren Bühnenelementen stehenden Dirigenten muss man sich gewöhnen, auch wenn die Regie das geschickt kaschiert. Fischer dirigiert die Ensembles eben aus ein paar Metern Entfernung, indem er sich den Klangkörpern zuwendet. Dem Werk selbst kommt Fischer durch diese Aufstellung deutlich entgegen.
Wenige Überraschungen
Ansonsten bietet die Aufnahme wenige Überraschungen. Das Concertgebouw-Orchester spielt auf modernen Instrumenten in einer für heutige Verhältnisse relativ starken Besetzung. Der Klang ist angenehm rund, ohne ins Romantische abzudriften. Das Spiel ist historisch informiert, das Vibrato der Streicher wohl dosiert, die Artikulation entschieden, aber nicht aufdringlich und insgesamt sehr kantabel. Auch die Leistung des Netherlands Radio Choir ist gut, fällt gegen das Orchester jedoch ein wenig ab. Davon geben auch die Soliloquenten Zeugnis, die zum Teil aus den Reihen des Chors besetzt wurden. So kann man hier einen nicht ganz textsicheren Petrus mit deutlich niederländischem Akzent hören – aber das sind Kleinigkeiten, die das Gesamterlebnis nur unwesentlich beeinflussen. Zwischen Turbae und Chorälen wissen die Sänger zu differenzieren und folgen dem Handschlag des Maestros, lesen ihm den musikalischen Ausdruck von Augen und Lippen ab.
Die acht Vokalsolisten sind zu zwei Quartetten konsequent den beiden Chören zugeteilt. Besonders herausragend ist Mark Padmore in der Rolle des Evangelisten, eindeutig Weltklasse. Erwähnenswert sind daneben außerdem Peter Harvey, der Christusworte und Arien mit hörbarer Anteilnahme und warmer Bassstimme vorträgt. Unter den Damen überzeugt die zur Höchstform aufgelaufene Ingeborg Danz (Mezzo-Sopran/Alt), deren Partien zu den Highlights der Aufnahme gezählt werden dürfen. Auf der anderen Seite wird die Tenor-Arie 'Geduld, wenn mich falsche Zungen stechen' zu Beginn des zweiten Teils durch Peter Gijsbertsen (Tenor) zur sprichwörtlichen Geduldsprobe, vor allem wenn er seine Stimme in höhere Gefilde zwingt.
Die Bildqualität der DVD wirkt im High-Definition-Zeitalter zwangsläufig mittelmäßig, aber es gibt auch eine Fassung auf BluRay, die dem Rezensenten leider nicht zur Verfügung stand. Kameraführung und Regie verfolgen die Dramaturgie eines gewöhnlichen Konzertfilms mit langsamen Kamerafahrten und Schnitten zwischen den Akteuren, ohne zu sehr auf den Dirigenten fixiert zu sein. Gewohnt gut ist auch der Klang, zumindest die PCM Stereo-Spur. Warum bei der DolbyDigital-Spur auf einen expliziten Subwoofer-Kanal verzichtet wurde (5.0), weiß wohl nur der Tonmeister. In dem sonst eher schlicht gehaltenen Booklet gibt es einen sehr informativen und konkret auf diese Aufnahme (!) bezogenen Text von Peter Uehling, was es leider viel zu selten gibt. Uehlings Text gibt es auf Englisch, Französisch und Deutsch, Biographien über die Akteure sucht man indes vergeblich.
Grundsolide
Iván Fischers Interpretation der Matthäus-Passion kreist in sich selbst, ist im positiven Sinne unaufdringlich und der Komposition entsprechend nur an wenigen Stellen dramatisch. Sein Zugriff auf die Musik ist ausgewogen, das Ergebnis zweifellos gut. Es handelt sich um eine musikalisch sehr runde Aufnahme von Bachs großer Passionsmusik, ohne Ecken und Kanten, aber auch ohne Extreme und ohne Überraschungen – darin kann man gleichermaßen eine Stärke oder Schwäche der Aufnahme sehen. Unabhängig vom persönlichen Urteil bleibt es aber eine grundsolide Deutung, an der musikalisch nicht viel Kritik geübt werden kann.
Interpretation: Klangqualität: Repertoirewert: Booklet: Features: Regie: |
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Detail-Informationen zum vorliegenden Titel:
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Bach, Johann Sebastian: Matthäus-Passion |
|||
Label: Anzahl Medien: Veröffentlichung: |
Arthaus Musik 2 11.03.2013 |
Medium:
EAN: |
DVD
807280167696 |
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Arthaus Musik Arthaus Musik wurde im März 2000 in München gegründet und hat seit 2007 seinen Firmensitz in Halle (Saale), der Geburtsstadt Georg Friedrich Händels. Zahlreiche Veröffentlichungen des Labels wurden mit internationalen Preisen ausgezeichnet, darunter der Oscar-prämierte Animationsfilm ?Peter & der Wolf? von Suzie Templeton, die aufwändig produzierte ?Walter-Felsenstein-Edition? und die von Sasha Waltz choreographierte Oper ?Dido und Aeneas?, die beide den Preis der deutschen Schallplattenkritik erhielten. Mit dem Midem Classical Award wurden u. a. die Dokumentationen ?Herbert von Karajan ? Maestro for the Screen? von Georg Wübbolt und ?Celibidache ? You don?t do anything, you let it evolve? von Jan Schmidt-Garre ausgezeichnet. Die Dokumentation ?Carlos Kleiber ? Traces to nowhere? von Eric Schulz erhielt den ECHO Klassik 2011. Mit der Tochterfirma Monarda Arts besitzt Arthaus Musik eine ca. 900 Produktionen umfassende Rechtebibliothek zur DVD-, TV- und Onlineauswertung. Seit 2007 entwickelt das Unternehmen kontinuierlich die Sparte Eigenproduktion mit der Aufzeichnung von Opern, Konzerten, Balletten und der Produktion von Kunst- und Musikdokumentationen weiter. Arthaus Musik DVDs und Blu-ray Discs werden über ein leistungsfähiges Vertriebsnetz, u.a. in Kooperation mit Naxos Global Distribution in ca. 70 Ländern der Welt aktiv vertrieben. Darüber hinaus veröffentlicht und vertreibt Arthaus Musik die 3sat-DVD-Edition und betreut für den Buchhandel u.a. die Buch- und DVD-Edition über Pina Bausch von LArche Editeur, Preisträger des Prix de lAcadémie de Berlin 2010. Mehr Info... |
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