
Pickard, John - Klavierkonzert & Tenebrae für Orchester
Brillanz und Tiefe
Label/Verlag: BIS Records
Detailinformationen zum besprochenen Titel
BIS legt eine beeindruckende Aufnahme dreier Orchesterwerke des britischen Komponisten John Pickard vor. Vor allem die klangfarbliche Differenzierung - der Werke wie deren Wiedergabe - ist beachtlich.
Einer typischen Doppelkarriere als Hochschuldozent und Komponist geht John Pickard (geboren 1963) nach. Das heißt aber nicht, dass der Schüler des walisischen Komponisten William Mathias und des Niederländers Louis Andriessen sich verzettelt – vielmehr verfolgt er eine klare Linie, nicht zuletzt durch seine Kompositionsprofessur an der Universität Bristol. Vor allem hat sich Pickard in den Bereichen der Kammer- und der Orchestermusik profiliert – seine Diskografie ist beeindruckend. Immer wieder ist es das schwedische Label BIS, das für Orchesteraufnahmen bereit steht, daneben liegen Pickard-CDs bei Toccata Classics, Dutton Epoch und Doyen vor.
Der traditionellen Form huldigt Pickard in seinem 1999-2000 entstandenen Klavierkonzert, das im Dresdner Kulturpalast seine Uraufführung erlebte. Das in seiner Essenz (poly-)tonale Werk ist reich an Farben und Texturen, rhythmisch und metrisch vielfältig; (wenige) Momente im äußerst reizvollen, 'Toccata' überschriebenen Kopfsatz erinnern den Rezensenten an Constant Lamberts 'The Rio Grande'; auch Strawinskys 'Sacre' ist als Vorbild für diesen ungeheuer energiegeladenen Satz unüberhörbar. Der (durchkomponierte) Übergang zum langsamen Satz lässt ganz andere Qualitäten hervortreten. Hier hat man einige wenige verdeckte Messiaen-Harmonien, vor allem aber ganz eigene große lyrische Bögen, die aber immer wieder durch metrische Figuren in verschiedenen Instrumenten(gruppen) gestört werden. Der Satz hat die Struktur einer Passacaglia, die Umspielung des achtakkordigen Themas im Klavier wie in den Holzbläsern bestätigt voll und ganz Pickards Formulierung im Booklettext, dass es sich hier um ein Konzert nicht nur für Klavier, sondern auch für Orchester handelt. Mit dem (abermals durchkomponierten) Übergang zum Schlusssatz tritt nochmals äußerste (aber nicht äußerliche) Virtuosität in den Vordergrund. Die ersten Töne zeigen an, dass der Satz als Doppelfuge angelegt ist – die formale Klarheit und die komplexen Texturen führen die Komposition zu einem äußerst erfolgreichen Ende. Die Fingerfertigkeit des Solisten Fredrik Ullén, bekannt für technisch höchst Anspruchsvolles, und des Norrköping Symphony Orchestra – nicht zu vergessen den Dirigenten Martyn Brabbins – ist beeindruckend, die Vielfalt der Klangeindrücke überwältigend.
Rund zehn Jahre früher (1988-9) entstand 'Sea-Change', eine insgesamt etwas weniger komplexe Partitur; nicht nur ist die Besetzung etwas weniger aufwändig (keine dreifachen Holzbläser), auch die Textur des Werkes ist schlichter. Wie so viele britische Komponisten ist Pickard fasziniert von der See, und er ist nicht der erste britische Komponist, der ein Werk mit diesem Titel schreibt (eine andere bekannte Komposition ist die Chorsuite des kürzlich verstorbenen Richard Rodney Bennett). Und betrachtet man Pickards Werk in dieser Tradition, in der Tradition eines Bax, Bridge, Britten und vieler anderer, so erweist sich, dass es sich nahtlos in diese Tradition einreiht. Was mir persönlich gelegentlich nicht ganz logisch erscheint, sind große Streicherbögen, die nahezu unvermittelt neben Momenten großer Energie stehen und für den Rezensenten mit den Schöpfungen mancher Filmmusiker in Verbindung stehen, doch auch dies mag Teil von Pickards Konzept des 'Sea-Change' sein. Die Energie und Lebhaftigkeit, mit der das Werk hier dargeboten wird, ist im besten Sinne atemberaubend – bewundernd steht man vor der großen Leistung der Interpreten da.
2008-9 entstand 'Tenebrae', eine umfangreiche, abermals einsätzige Komposition, die ihren Ausgang von einem Tenebrae-Responsorium Gesualdos nimmt. Das Werk entstand für die hier musizierenden Interpreten, die es am 25. März 2010 aus der Taufe hoben. Ist – verkürzt gesagt – 'Sea-Change' durch das Meer inspiriert, so erwächst 'Tenebrae' aus dem Dunklen, Düsteren. Unmittelbar ist zu spüren, dass Pickard in Farben komponiert, dass die klangliche Komponente essenzieller Teil seines Schaffens ist. 'Tenebrae' mit seinen fahlen Farben, seinem düsteren Brüten offenbart eine gänzlich andere Seite von Pickards Klangsinn, gleichzeitig abermals seine starke Verbindung zur Vergangenheit. Abgesehen von der voll angemessenen (fernen) Reverenz an den Renaissancemeister ist er hier, mehr noch als in den früheren Kompositionen, ganz er selbst. Die klangliche Raffinesse ist aber (anders als im Klavierkonzert) dem musikalischen Sinn untergeordnet, hierdurch stärker konturiert. Müsste ich mich auf der CD für eine der drei Kompositionen entscheiden, ohne Frage würde 'Tenebrae' den Preis davontragen – für mich auf seine ganz eigene Weise eine Art Antwort auf die großen Tondichtungen des Anfangs des 20. Jahrhunderts.
Die Aufnahmetechnik ist (trotz Verzichts auf die SACD-Komponente) absolut brillant, das Booklet nahezu perfekt. Hätte ich nicht zufällig Zugang zum Livemitschnitt der Uraufführung des Klavierkonzerts, der einen geringfügig konzentrierteren, in sich gerundeteren Eindruck des Werks vermittelt, die CD wäre perfekt.
Interpretation: Klangqualität: Repertoirewert: Booklet: |
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Detail-Informationen zum vorliegenden Titel:
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Pickard, John: Klavierkonzert & Tenebrae für Orchester |
|||
Label: Anzahl Medien: Veröffentlichung: |
BIS Records 1 16.01.2013 |
Medium:
EAN: |
CD
7318590018736 |
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BIS Records Most record labels begin with a need to fill a niche. When Robert von Bahr founded BIS in 1973, he seems to have found any number of musical niches to fill. The first year's releases included music from the renaissance, Telemann on period instruments, Birgit Nilsson singing Sibelius and works by 29 living composers - Ligeti and Britten as well as Rautavaara and Sallinen - next to Purcell, Mussorgsky and Richard Strauss. A musical chameleon was born, a label that meant different things to different - and usually passionate - devotees. Mehr Info... |
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