
Bach, Johann Sebastian - Sonaten & Partiten für Violine BWV 1001-1006
Natürlich und ungezwungen
Label/Verlag: Phi
Detailinformationen zum besprochenen Titel
Christine Busch legt mit ihrer Aufnahme von Bachs 'Sei Solo', den Sonaten und Partiten für Violine solo BWV 1001-1006, eine Referenzaufnahme vor. Im Ausdruck gehaltvoller und technisch sicherer ist diese Musik nicht zu realisieren.
Johann Sebastian Bach hatte als letzter die Idee aufgegriffen, Musik für unbegleitete Violine zu schreiben, Musik also, die keine Continuostütze an ihrer Seite hatte, sondern sich allein aus sich selbst heraus in Vollkommenheit und harmonischer Balance auszuweisen hatte. Bach steht mit seinen 1720 in Reinschrift hinterlassenen ‚Sei Solo‘, seinen sechs Sonaten und Partiten für Solovioline BWV 1001–1006 am Ende einer kurzen Traditionslinie, deren Beginn die beiden in Dresden tätigen Violinisten Johann Jakob Walther (ca. 1650-1717) und Johann Paul Westhoff (1656-1705) setzten. Westhoff hatte 1696 eine Zusammenstellung von sechs Partiten herausgegeben, und in deren Folge leistete auch Johann Georg Pisendel (1687-1755) einen Beitrag zu dieser Gattung: er komponierte 1716 eine ‚Sonata a violino solo senza basso‘. Nicht zuletzt dürfte ganz gewiss auch Heinrich Ignaz Franz Biber (1644-1704) ein Auslöser für Bachs Solowerke für die Violine gewesen sein. Den Schluss von Bibers 1676 fertiggestellten ‚Rosenkranz-Sonaten‘ bildet eine unbegleitete Passacaglia, der Form nach Vorläufer zu Bachs großer 'Ciaccona' seiner d-Moll Partita BWV 1004.
Bachs Intention seiner musikalischen Sammlungen zielte im Nebeneffekt immer auch auf eine praktische Anleitung, was Stil und Kompositionstechnik angeht. Das beweisen etwa die sechs ‚Brandenburgischen Konzerte‘, ebenso aber neben manchem anderen auch die zwei- und dreistimmigen Inventionen für Cembalo sowie die beiden Bände seines ‚Wohltemperierten Klaviers‘. Auch die sechs Solowerke für Violine zeigen ein breites Spektrum musikalischer Aufgabenstellungen. Drei der sechs Werke sind Sonaten in der Form einer italienischen ‚Sonata da chiesa‘ mit der Satzfolge langsam-schnell-langsam-schnell, die anderen drei sind Partiten und gehorchen der Form der französischen Suite.
Allen Werken gemein ist Bachs forciertes Ausreizen kompositionstechnischer Hürden, die dem Instrument und dem Spieler Lösungen abverlangen, die beide, die Violine und den Interpreten, stark fordern. Die Rede ist von mehrstimmig angelegten Partien, die mittels Doppel- und Mehrfachgriffen und entsprechender Bogenführung einen vielstimmigen und dabei linear fortschreitenden Duktus hörbar werden lassen. Die weitestreichende Grenzüberschreitung eines solchen der Natur des Melodie-Instruments an sich zuwiderlaufenden Anspruchs sind die jeweils an zweiter Stelle stehenden Fugen in den Sonaten, deren großartigste die auf annähernd 12 Minuten Dauer angelegte 'Fuga' der C-Dur-Sonate BWV 1005 ist.
Immer wieder haben sich Interpreten mit beindruckendem Erfolg an diesen Gipfelwerken der Violinliteratur abgearbeitet. Immer blieb da aber auch ein Rest an Unvollkommenheit, was Intonation und Balance der Stimmführung angeht. Man hatte sich damit abgefunden, dass Bachs Violinsolowerke nun eben einmal auch die versiertesten Geiger überfordern.
Nun scheint aber mit der Geigerin Christine Busch doch tatsächlich eine Künstlerin auf den Plan getreten zu sein, die alles Bisherige und alle anderen Kollegen in den Schatten zu stellen vermag. Christine Busch – sie lehrt derzeit an der Stuttgarter Musikhochschule – ist auf dem modernen wie dem historischen Instrument zuhause. Für die Aufnahme der Bachschen Solowerke für Violine bei dem Label Phi/Outhere hat die auch als Konzertmeisterin mit Philippe Herreweghe zusammenarbeitende Künstlerin selbstverständlich ein historisches Instrument gewählt.
Christine Busch geht an Bachs gigantische geigerische Herausforderung erstaunlich natürlich und ungezwungen heran. Sie findet stets den richtigen Puls und weiß Bachs rhetorischem Gestus wie selbstverständlich nachzugehen. Sie macht es dem Hörer, den sie unmittelbar ins musikalische Geschehen hineinzunehmen versteht, mit ihrer frappierenden Unaufgeregtheit, mit ihrer phantastischen Ruhe und Gelassenheit leicht, Bachs Gedankenwelt zu folgen.
Ausdrucksgebung und technische Realisation gehen bei ihr eine perfekte Balance ein. Die tänzerisch angelegten Charaktere erhalten in ihrer hoch sensiblen und ungemein organisch vorgehenden Darstellungsweise genau jene subtilen Betonungsverhältnisse, die den rhythmischen Puls agil halten, ohne diesem jemals ein Zuviel an etwaiger Überbetonung zu verleihen. Die mehrstimmig strukturierten Passagen lassen nirgendwo erkennen, dass es der Interpretin größere Mühe bereite, den Akkordkonstellationen oder der mehrstimmig linearen Fortschreitung Maß und Balance zu geben. Immer ist alles vollkommen im Lot und in der bestechenden Intonationsgenauigkeit, die die Künstlerin durchgängig einzuhalten vermag – man meint, diese Stücke, verglichen mit einer Vielzahl anderer Interpreten, zum ersten Mal wirklich so zu hören wie sie notiert sind.
Die Tempi, die Christine Busch wählt, haben Zugkraft, aber sie wirken niemals verhetzt; sie sind leicht und locker gehalten, und jede Phrase weist, überlegt gestaltet und klar strukturiert in ihrer Gliederung, ein agogisch lebendig atmendes, dynamisch mit reicher Schattierung modelliertes und federnd akzentuiertes, stets hoch sensibel austariertes Spannungspotential aus. Die Künstlerin weiß hierbei immer zugleich auch die übergeordnete Lineatur der musikalischen Textur, also den größeren Zusammenhang mitzudenken und für den Hörer erfahrbar zu machen.
Wollte man ein Musterbeispiel dieser überragenden Einspielung von Christine Busch herausstellen – obgleich im Grunde genommen jeder Satz einer jeden Sonate und einer jeden Partita ein solches darstellt –, so könnte man 'Adagio' und 'Fuga' aus der C-Dur-Sonate BWV 1005 nennen. Im 'Adagio', sonst immer als sehr schwergängig zu erleben, versteht es die Künstlerin, dessen inneren Puls, den punktierten Rhythmus des Satzes in einer perfekt ausgewogenen, ebenmäßig pendelnden Balance zu halten, ohne dabei dem Anspruch hinterherzuhinken, zugleich auch einer vollkommen runden und schlackenlosen Ausformulierung von dessen mehrstimmiger Disposition nachzugehen. Und die nachfolgende 'Fuga' beweist in überwältigender und faszinierender Weise eine kaum für möglich gehaltene Deckungsgleichheit gestaltender Durchdringung und zugleich staunenswerter technischer Beherrschung. Alles Schwere weiß die Interpretin hinter sich zu lassen. Was bleibt, ist Klarheit von Struktur und Ausdruck. Einfach phantastisch!
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Detail-Informationen zum vorliegenden Titel:
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Bach, Johann Sebastian: Sonaten & Partiten für Violine BWV 1001-1006 |
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Label: Anzahl Medien: Veröffentlichung: |
Phi 2 01.02.2013 |
Medium:
EAN: |
CD
5400439000087 |
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Phi Der griechische Buchstabe φ (PHI - die Übereinstimmung mit den Initialen von Philippe Herreweghe ist nicht ganz zufällig) versinnbildlicht die Ambitionen des Labels. Er ist das Symbol für den goldenen Schnitt, für die Perfektion, die man in den Staubfäden der Blumen findet, für griechische Tempel, Pyramiden, Kunstwerke der Renaissance oder für die Fibonacci-Zahlenfolge. Seit der frühesten Antike steht dieser Buchstabe im eigentlichen Sinne für Kontinuität beim Streben nach ästhetischer Perfektion. Mehr Info... |
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