> > > Abel, Jenny & Szidon, Roberto spielen: Werke von Brahms, Medtner u.a.
Freitag, 22. September 2023

Abel, Jenny & Szidon, Roberto spielen - Werke von Brahms, Medtner u.a.

Die Zeit steht still


Label/Verlag: Hastedt
Detailinformationen zum besprochenen Titel


Jenny Abel blickt in dieser Wiederveröffentlichung von Aufnahmen aus den Siebziger- und Achtzigerjahren hinter die klangliche Oberfläche und legt Farben, Charaktere, dynamische Kräfte frei.

Es ist nicht der Aufmerksamkeit heischende, vordergründige Sound einer Anne-Sophie Mutter, der Jenny Abels (*1942) Geigenspiel in dieser neuen Einspielung (sie fasst Aufnahmen aus den Jahren 1978/79 und 1986 zusammen) ausmacht. Mutter hat als Zwanzigjährige nur drei Jahre später (1982) das erste Mal die Brahms-Violinsonaten – zusammen mit Alexis Weissenberg am Klavier – eingespielt. Welten legen zwischen den Ansätzen der beiden Geigerinnen. Bei Abel herrscht in der d-Moll-Sonate op. 108 ein fast zaghafter, weltabgewandter Ton vor. Bedeutungsschwere ist ihr von dem Musikjournalisten Albrecht Roeseler angelastet worden; entscheidend ist aber wohl der Wunsch von Jenny Abel, nach etwas Einzigartigem hinter der Musik zu suchen. Die gebürtige Husumerin, die schon als Wunderkind von Menuhin protegiert von sich reden machte, möchte das Unaussprechliche aussprechen. Sie passt so in keine Schublade.

In Roberto Szidon (1941–2011) hatte sie einen genialen Partner am Klavier gefunden: Der kleingewachsene, schnaubende Brasilianer, der so fabelhaft Noten vom Blatt lesen konnte, war ihr nicht umsonst eher zufällig in Gelsenkirchen begegnet. Dort wirkten die beiden unabhängig voneinander im selben Konzert mit, Szidon als Solist in Rachmaninoffs Drittem Klavierkonzert, Abel als Solistin im Violinkonzert von Sibelius. Dabei funkte es, wie Abel in ihrem lesenswerten Textbeitrag zu dieser CD bekennt und beide beschlossen spontan, zusammen zu spielen.

Die vorliegende Aufnahme der Brahms-Sonate d-Moll verkörpert eine nostalgisch-wehmütige Variante, was besonders im 'Adagio' zur Geltung kommt. So innerlich intoniert hört man dieses instrumentale Lied selten. Schmerzerfüllt und mit sattem Vibrato rutscht die damals 36-Jährige Geigerin die G-Saite empor und vermag den gebrochenen Akkorden nachdrückliche Impulse zu verleihen. Das leidenschaftliche Element liegt der Violinistin genauso wie dem fabelhaften Pianisten, der völlig abgeklärt dem Klavier zarteste Nuancen abzugewinnen versteht. Da freut sich das Gemüt, wenn es am Klavier brahmsisch-tänzerisch zugeht oder wenn manche Akkorde Eiseskälte verströmen. Nie tritt Abel vordergründig oder sich selbst darstellend hervor. Sie geht, im Gegenteil, völlig in der Musik auf.

Ein frisches Werk ist immer noch Olivier Messiaens 'Thème et Variations – Pour Mi'. Völlig unverbraucht klingt das hier und ist sicher eine Trouvaille und Bereicherung des Programms, wie die ebenfalls hier eingespielte Sonate für Violine und Klavier Nr. 1 h-Moll op. 21 von Nikolaj Medtner. Messiaen, 24-jährig, ist hier 1932 noch ganz impressionistisch ausgerichtet: Reminiszenzen an Debussy, Lekeu und Poulenc schwingen da mit an. Claire Delbos (Spitzname ‚Mi‘, was im Deutschen dem Ton ‚e‘ entspricht), Messiaens erste Frau, ist Widmungsträgerin dieser spritzigen, technisch anspruchsvollen Miniatur, die Abel voll Verve vorträgt. Zwei Dekaden zuvor komponierte Nikolaj Karlowitsch Medtner (1879–1951) seine dreisätzige Sonate Nr. 1 für Violine und Klavier h-Moll op. 21, die mit wellenwogender 'Canzona' anhebt. Abel und Szidon bilden auch hier ein musikalisches Traumpaar, denn die Balance zwischen Violine und Klavier könnte ausgeglichener nicht abgestimmt sein. Klar führt Abel den Bogen und hat Farbe im Ton, Nerv und Süße zugleich. Die Komposition des 30-jährigen Moskauer Klavierprofessors atmet einen schwelgerischen Duktus. So endet der erste Satz mit Sordino und Flageolett-Tönen. Kleine Verzierungen umranken immer wieder das melodische Geschehen. Abgesehen von der Tonart h-Moll fehlt aber die typisch russische Melancholie. Der eigentlich wunderschöne und virtuose zweite Satz 'Danza' ist in seiner Anlage dem ersten allerdings zu ähnlich, weswegen das kontrastierende Element etwas zu kurz kommt. Vielleicht ist das – und die recht teure Notenausgabe – ein Grund, warum die Sonate heute von den Podien weitestgehend verschwunden ist, zumindest in Deutschland. Auch die anderen beiden Sonaten Medtners hört man recht selten bis nie.

Die herbe Sonate d-Moll von Francis Poulenc dagegen erfreut sich letztens zunehmender Beliebtheit. Unter anderen haben sie Isabelle van Keulen, Daishin Kashimoto oder Liza Ferschtman eingespielt. Was an Abels Rundfunkproduktion vom 27. Januar 1978 in Stuttgart für den damaligen SDR sofort ins Ohr fällt, sind ihre extrem schnellen Tempi in den Ecksätzen. Für das einleitende 'Allegro con fuoco' benötigen Abel/Szidon nur 6:10 Minuten. Daishin Kashimoto und Itamar Golan (Sony, 2001), weißgott nicht berüchtigt für Schläfrigkeit, spielen den Satz in 7:34 Minuten. Welch ein Unterschied! Das gleiche Muster im Finalsatz 'Presto tragico'. Abel ist da wiederum mehr als eine Minute schneller und braucht lediglich 4:50 Minuten. Doch Abels Version ist keineswegs überhetzt; sie brennt jenes Feuer ab, das der Komponist einfordert.

Im lyrischen Mittelteil des Kopfsatzes sind Abel und Szidon auch das perfektere Duo. Sie haben auch ab Minute 3:00 viel Zeit für Kontemplation. Bis hierher klingt das bei Kashimoto eher nach Schluckauf. Auch die besagte Stelle (hier ab Minute 4:00) klingt eher aus dem Zusammenhang gerissen. Die musikalische Lösung von Abel ist da viel eleganter, wehmütiger, sehnsuchtsvoller, reifer, selbst wenn die Aufnahmequalität Ende der 70er Jahre etwas matter ausgefallen ist. Die Geigerin ist in ihrer Impulsivität nur vergleichbar mit Vorbildern wie Ginette Neveu. Den zweiten Satz 'Intermezzo' kostet Abel in vollen Zügen aus, die Zeit scheint dabei still zu stehen. Welch ein Vibrato betört da das Ohr, wie wunderbar mischt Roberto Szidon den Klang des Klaviers zur Violine ab. Insbesondere glänzt er mit wohldosiertem Pedal und gibt dem Satz so eine märchenhafte Aura. Zartestes Pianissimo, Triller und gelegentliche Gefühlsausbrüche kennzeichnen das Violinspiel. Da hängt Herzblut an jeder Note.

Sergej Rachmaninoffs 'Romanze' ist technisch anspruchsvoll, gespickt mit Oktaven, Sexten und Terzen und doch ein typischer Vertreter russischer Spätromantik. Zusammen mit dem 'Ungarischen Tanz' sind die beiden Salonstücke op. 6 die einzigen Werke für Violine und Klavier aus der Feder des Komponisten. Abel stößt hier an ihre technischen Grenzen, bemüht sich aber um runden, ausgewogenen Vortrag. Ihr tiefdunkler Ton, ihr lebendiges Vibrato hauchen dieser Miniatur neues Leben ein. Auch im 'Ungarischen Tanz' zeigt die Grande Dame des Violinspiels Rückgrat und geigerisches Format mit rhythmisch exaktem Spiel und zügellosem Temperament. Das alles macht Appetit auf mehr solcher Aufnahmen, die heute so selten geworden sind.

Interpretation:
Klangqualität:
Repertoirewert: 
Booklet:





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Detail-Informationen zum vorliegenden Titel:



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    Abel, Jenny & Szidon, Roberto spielen: Werke von Brahms, Medtner u.a.

Label:
Anzahl Medien:
Veröffentlichung:
Hastedt
1
19.12.2012
Medium:
EAN:

CD
4037218066050


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"Fünfzehn Jahre bildeten die Geigerin Jenny Abel und der Pianist Roberto Szidon ein Duo, das zahllose Konzerte gab und preisgekrönte Schallplattenaufnahmen hinterließ. Zur Erinnerung an Roberto Szidon, der im Dezember 2011 starb, haben wir aus Rundfunkaufnahmen der 70er und 80er Jahre ein spannendes Programm zusammengestellt: Brahms 3. neben Medtners 1. Violinsonate sowie die Sonate von Poulenc; zwei Salonstücke des blutjungen Rachmaninow und ein kurzes Messiaen-Werk sind auch dabei."


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Hastedt

Wiederentdeckung einer Musiklandschaft - Vier Jahrzehnte Musik in der DDR.

ACHTZEHN JAHRE - Hastedt - ACHTZEHN JAHRE <BR> Seit achtzehn Jahren stellt Hastedt wichtige KomponistInnen vor, die in der DDR gelebt und gearbeitet haben - mit exemplarischen Werken und in erstveröffentlichten Aufnahmen von Solisten/Orchestern aus der ehemaligen DDR. Aber auch KomponistInnen aus Berlin, Bremen, Brünn, Bukarest oder Glasgow finden Sie in unserem Programm.

Interpretenporträts von herausragenden, doch weitgehend vergessenen Künstlern aus dem vorigen Jahrhundert vervollständigen unser Programm.

Poldi Mildner (1913-2007), eine Pianistin aus der Liszt-Schule. Einen "Vulkan am Klavier" nannte Franziska Kottmann die einstündige Sendung über sie im DLF.<P>

Branka Musulin (1917-1975), die Magierin am Klavier. FONO FORUM hat ihr und der Hastedt-CD eben (02/13)einen zweiseitigen Artikel gewidmet. Neu in 2014 erschien von ihr eine Doppel-CD mit ihren schönsten Plattenaufnahmen aus den 60ern (Ravel, Franck und Chopin-Konzerte), zusammen mit den Diabelli-Variationen von Beethoven.<P>

Anja Thauer (1945-1973), die "deutsche Jacqueline du Pré", wie die Süddeutsche Zeitung sie nannte, ist mit bisher drei CDs vertreten, die alle begeisterte Kritiken ernteten. Anja Thauer war eine charismatische Musikerin, die leider viel zu früh starb. <P>  

Jenny Abel, Violine mit Roberto Szidon (1941-2011) am Klavier mit Brahms' dritter Sonate, Medtners 1. Sonate, der Violinsonate von Poulenc sowie zwei hinreißenden kleineren Werken von Messiaen und Rachmaninow werden in Rundfunkproduktionen der achziger Jahre vorgestellt. <P>

Max Rostal (1905-1991), ein legendärer Geiger in der ersten Jahrhunderthälfte - und nach seiner Rückkehr aus dem Exil ein ganz wichtiger Lehrer für eine ganze Geiger"generation". An ihn wird in exemplarischen Kammermusik-Aufnahmen aus den fünfziger Jahren erinnert. <P>

 


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