
Thomas, Michael Tilson dirigiert - Werke von Cowell, Harrison & Varese
Perfektionistisch
Label/Verlag: San Francisco Symphony
Detailinformationen zum besprochenen Titel
Michael Tilson Thomas und das San Francisco Symphony Orchestra widmen sich drei amerikanischen Werken des 20. Jahrhunderts. Das Ergebnis besticht vor allem wegen der brillanten Orchesterleistung.
Michael Tilson Thomas empfindet die langjährige Bindung an ein Orchester als essenziell identitätsstiftende Eigenschaft, um ein klares musikalisches Profil zu entwickeln und in jedem Konzert wahre Höchstleistungen bieten zu können. So hat sich MTT, wie er auch genannt wird, mittlerweile 68 Jahre alt, auf vergleichsweise wenige Chefdirigate über die Jahrzehnte (!) beschränkt, darunter von 1988 bis 1995 beim London Symphony Orchestra, seit 1995 beim San Francisco Symphony. Das Orchester, das lange im Schatten des immer wieder von höchst prominenten Namen (u.a. Otto Klemperer, Zubin Mehta, Carlo Maria Giulini, André Previn, Esa-Pekka Salonen, Gustavo Dudamel) geleiteten Los Angeles Philharmonic stand, hat unter MTT, nicht zuletzt wegen der intensiven Nutzung neuer Medien und neuer Vermittlungsformen von Musik, klares Eigenprofil gewonnen, viele seiner Pionierleistungen werden heute weltweit übernommen.
Eine grundsätzliche Entscheidung war, das Orchester nicht nur auf einem eigenen Label zu präsentieren (SFS media), sondern alle (Live-!)Einspielungen als SACD vorzulegen. So hat sich ein Klangideal entwickelt, das für höchste Durchhörbarkeit steht, selbst bei den kompliziertesten Schöpfungen Neuer und Neuester Musik.
Henry Cowell (1897–1965) schuf das für multimediale Wirkungen (Klang, Ballett, Licht) konzipierte Orchesterwerk 'Synchrony' bzw. das Klavierkonzert in den Jahren 1930 bzw. 1928. Die Nähe von 'Synchrony' etwa zu der Musik Darius Milhauds ist offenkundig, auch Arthur Bliss‘ 'Colour Symphony' kommt in den Sinn. Die Komposition – und ihre Interpretation – besticht durch differenzierteste Klangwirkungen, die beweisen, dass MTT mit seinem Orchester ein Niveau erreicht hat, das früher nur den bekanntesten amerikanischen Klangkörpern, etwa dem Cleveland Orchestra, dem Chicago oder Boston Symphony oder dem Philadelphia Orchestra attestiert wurde. Die Streicher evozieren eine Wärme, die den Wiener Philharmonikern in ihren besten Momenten wohl anstände (man wünscht sich Alban Berg vom SFS), die Blechbläser sind von einer Differenziertheit, die ihresgleichen sucht, die Solistenkultur ist eine echte, lebende Kultur und kein immer wieder nur publizistisch beschriebenes Ideal.
Cowells eigene musikalische Individualität ist etwas klarer ausgeprägt in dem klanglich ausgesprochen vielfältigen Klavierkonzert, das mit den Satztiteln 'Polyharmony', 'Tone Cluster' und 'Counter Rhythm' jeweils besondere Gestaltungsmerkmale hervorhebt. Jeremy Denk meistert den technisch anspruchsvollen, nicht selten perkussiv geprägten Solopart gut. Und immer wieder sind die herrlichen Qualitäten des Orchesters zu bewundern, die selbst größere Schwächen der Komposition vergessen lassen.
Lou Harrison (1907–2003) wurde 1935 Cowells Schüler. Sein Konzert für Orgel und Schlagorchester (inkl. Klavier) entstand 1972-3 und wird hier (die Ecksätze sind ausgesprochen perkussiv) als klug gewählter Gegenpart zu Cowells Klavierkonzert dargeboten. Das fünfsätzige Werk ist offen traditionalistisch – nicht nur ist die Harmonik schlussendlich weniger avanciert als in Cowells Kompositionen, auch die Formgestaltung (mit Satzbezeichnungen wie 'Siciliana in the form of a double canon' oder 'Canons and Choruses') spielt mit allseits Bekanntem, gewinnt aber durch die denn doch etwas seltener zu erlebende Instrumentierung durchaus eigenes Profil. Leider weist der zentrale Largo-Satz der Komposition durch etwas zu lange Klaviersoli und nur eingeschränkte Nutzung der Klangfarben der riesigen (Fratelli Ruffatti-)Orgel der Davies Symphony Hall durch den Solisten Paul Jacobs gewisse Längen auf. Das Finale scheint teilweise Messiaen verwandt, trotz der Verwendung amerikanischer oder amerikanophiler Melodien und trotz der mitreißenden Schlagorchestergestaltung. Was bei der vorliegenden Interpretation trotz der genannten Einschränkungen überzeugt, ist die ungeheure Präzision, mit der Orchester und Solist ineinander quasi verwoben sind.
Diese Qualität höchster Präzision, höchster musikalischer Perfektion erleben wir auch (und in besonderem Maße) bei dem berühmtesten und bedeutendsten Werk auf der SACD, Edgard Varèses (1883–1965) 'Amériques', von 1918 bis 1922 nur wenige Jahre nach Varèses Übersiedlung aus Europa entstanden und 1927 sowie in den 1960er-Jahren überarbeitet; hier wird die Fassung von 1927, aus dem Jahr seiner Naturalisierung als Amerikaner, gespielt. Voller Poesie und Phantasie entwerfen MTT und seine Musiker hier ein echtes musikalisches ‚Gesamtkunstwerk‘. Eindeutig überragt Varèses Komposition durch ihre Individualität um ein Vielfaches die Schöpfungen Cowells und Harrisons, so bedeutend die beiden für die Entwicklung nordamerikanischer Musikgeschichte gewesen sein mögen.
Das multimediale Interesse des San Francisco Symphony lässt es umso überraschender erscheinen, dass der größte Schwachpunkt der hier vorgelegten Produktion (von der Programmierung der CD abgesehen) das Booklet ist, in dem sich die Informationen zu den einzelnen Werke auf kaum mehr als die Entstehungsdaten beschränken.
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Detail-Informationen zum vorliegenden Titel:
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Thomas, Michael Tilson dirigiert: Werke von Cowell, Harrison & Varese |
|||
Label: Anzahl Medien: |
San Francisco Symphony 1 |
Medium:
EAN: |
SACD
821936005620 |
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San Francisco Symphony Das SAN FRANCISCO SYMPHONY Orchestra gab seine ersten Konzerte im Jahre 1911 und hat seitdem bei wachsender Publikumsbegeisterung unter einer Reihe von Dirigenten konzertiert: Henry Hadley, Alfred Hertz, Basil Cameron, Issay Dobrowen, Pierre Monteux, Enrique Jordá, Josef Krips, Seiji Ozawa, Edo de Waart, Herbert Blomstedt (nun zum Ehren-Dirigenten ernannt) und seit 1995 unter Michael Tilson Thomas. In den vergangenen Jahren konnte das San Francisco Symphony Orchestra einige der weltweit bedeutendsten Schallplatten-Preise gewinnen, wie den französichen Grand Prix du Disque, den britischen Gramophone Award und eine Reihe von Grammys für die Aufnahmen von Werken Brahms', Orffs, Prokofievs und Strawinskys. Die erste Aufnahme des Mahler-Zyklus', die 6. Sinfonie, erhielt 2002 den Grammy für die beste Orchesterproduktion des Jahres, die Aufnahme der 3. Sinfonie wurde 2003 mit dem Grammy der Kategorie "bestes klassisches Album" ausgezeichnet. 2006 wurden dem San Francisco Symphony Orchestra anlässlich der Aufnahme der 7. Sinfonie die beiden Grammys für die beste Orchesterproduktion und für das beste klassische Album des Jahres zuerkannt; die Aufnahme von Mahlers Achter wurde 2009 mit drei Grammys für das beste klassische Album, die beste Chorproduktion und das bestausgeführte klassische Album geehrt. 2004 wurde das multimediale Pädagogikprojekt Keeping Score im TV, auf DVD, über den Rundfunkt und die Website keepingscore.org lanciert. Für das Label RCA Red Seal hat das SFS unter Michael Tilson Thomas auch Berlioz' Symphonie fantastique, zwei Copland-Alben, eine musikalische Auswahl von Charles Ives und eine Gershwin-Sammlung aufgenommen, die das Programm der Eröffnungsgala der Saison 1998 in der Carnegie Hall New York enthält. Die Celebration of Leonard Bernstein, eine Live-Aufnahme der Carnegie Hall-Eröffnungsgala von 2008, wurde bundesweit im Fernsehen ausgestrahlt und ist auf DVD erhältlich. Das San Francisco Symphony Orchestra ist regelmäßig in den USA, Europa und Asien zu hören und debütierte 1990 mit großem Erfolg bei den Salzburger Festspielen und beim Lucerne Festival. 1980 übersiedelte das Orchester in die neu erbaute Louise M. Davies Symphony Hall. Im selben Jahr wurde zusätzlich das San Francisco Jugendsymphonie-Orchester gegründet. Der San Francisco Symphony Chorus ist auf dem Soundtrack der drei weltbekannten Filme "Amadeus", "Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins" und "Der Pate III" zu hören. Das San Francisco Symphony Orchestra hat nicht nur im Jahre 1926 als erstes amerikanisches Orchester überhaupt im Radio symphonische Musik aufgeführt, sondern wird auch noch heute überall in den USA gern gehört und leistet durch seine künstlerische Vielfalt einen wesentlichen Beitrag zum amerikanischen Musikleben. Mehr Info... |
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