
Johann Sebastian Bach: Motetten - BWV 225-230, BWV Anh. 159
Gipfelwerke
Label/Verlag: Carus
Detailinformationen zum besprochenen Titel
Die Motetten Johann Sebastian Bachs in einer außerordentlich hochklassigen, absolut konkurrenzfähigen Interpretation durch Frieder Bernius' Stuttgarter Kammerchor.
Der Einführungstext der vorliegenden Produktion der Motetten Johann Sebastian Bachs durch den von Frieder Bernius geleiteten Kammerchor Stuttgart weist auf einen in der heutigen Wahrnehmung weitgehend in den Hintergrund getretenen, gleichwohl interessanten Umstand hin: Die dokumentarische Überlieferung ist ausgerechnet für diesen Kernbestand Bachscher Vokalmusik mit Rätseln verbunden, oft bruchstückhaft und hat sich durch die mittelnde Instanz kopierender oder gar bearbeitender Hände vollzogen. Wohl auch die frühe Rezeption dieses Werkbestands hat ihren Teil dazu beigetragen, hatte der Herausgeber dieser ersten Druckausgabe Bachscher Werke seit 1708, der spätere Thomaskantor Johann Gottlieb Schicht, ganz am Beginn des 19. Jahrhunderts möglicherweise noch heute unbekannte Quellen und Informationen zur Verfügung. Jedenfalls hat die Diskussion um die Echtheit des Überlieferten, über die ‚Rechtmäßigkeit‘ der Zugehörigkeit zum Kanon der Bach-Motetten seit dieser Zeit mit verschiedenen Ergebnissen nie ganz abgerissen, wohl auch, weil etliche Details wie konkrete Entstehungsanlässe oder Besetzungsfragen nicht letztgültig zu klären sind und so für die Entscheidungen der praktischen Aufführung eine gewisse Präsenz behalten.
Üblich ist es in der Gegenwart, die Motetten BWV 225 bis 230 einzuspielen, wobei die alleinige Urheberschaft der letztgenannten unter dem Titel 'Lobet den Herrn, alle Heiden' nicht mehr unumstritten ist. Deutlicher an die Sphäre der Gültigkeit herangerückt ist stattdessen die lange Jahre anderen Urhebern zugeschriebene Motette 'Ich lasse Dich nicht' BWV Anh. 159. Dieser Umstand ist erfreulich, bringt dieses Werk doch eine schlichte Trauergeste ein, die das sonst hochfigurierte Werk der übrigen Motetten gelungen kontrastiert.
Dem Rang der Kompositionen angemessene interpretatorische Größe
Auch Frieder Bernius hat diese Motette in das Programm der Einspielung einbezogen und unterstreicht, was über die Motetten Bachs insgesamt bekannt ist: Die Arbeiten bilden ein unvergleichlich zu nennendes Werk – in ihrem kompositorischen Wert, in der mannigfaltigen Expressivität, in ihrem mittlerweile ehrfurchtgebietenden musikhistorischen Rang.
Bernius‘ Kammerchor Stuttgart wird sämtlichen Anforderungen ohne erkennbare Mühen gerecht: Der Dirigent hat das Ensemble in langen Jahren zu einem famosen Instrument geformt. Der Chor ist mit 27 Vokalisten kraftvoll und ausgeglichen besetzt, in weichen, verschmelzungsfähigen Registern, die dennoch fein zu zeichnen in der Lage sind. Auch in dichtester Kontrapunktik ist der Gesang absolut transparent und luzide – die große Fuge im ersten Teil von 'Singet dem Herrn ein neues Lied' BWV 225 gerät in dieser Hinsicht geradezu perfekt. Intonatorisch erweist sich der chorische Gesang als makellos, ohne dominierende Soprane, in plastischer Harmonie zusammengefügt. Auch die Artikulation verrät akribische Arbeit: Es sind sehr schön belüftete Linien und Entwicklungen von sprechender Klarheit zu hören, ohne dass dabei Klangsinnlichkeit oder elegante Wirkungen gefährdet würden.
In voller Besetzung entfaltet der Chor immer wieder wunderbare lyrische Qualitäten, findet in Chorälen oder schlichteren Abschnitten zu beseelter Linearität. Die Diktion ist plastisch und vollkommen natürlich, das Singen vollzieht sich insgesamt sehr nah und intensiv am Text. Die von Bernius an einigen Stellen geforderten Soli gehen vollkommen niveaugleich aus dem Chor hervor und kontrastieren das Geschehen überzeugend. Deutlich verfängt auch der in den Tempi oft frische Ansatz Bernius‘, der auch choraliter nie zögerlich wird, keine wirklich breiten Schlusswirkungen kennt.
Das ansprechend klare Klangbild wirkt harmonisch balanciert. Alle Stimmen werden gleichrangig vorgestellt, auch die delikate, präzise und in ihrer Unauffälligkeit hilfreiche instrumentale Grundierung durch Viola da gamba und Orgel ist gut in den Gesamtklang integriert. Minimales Manko in diesem Bereich ist, dass es zwischen der Vielzahl der einzelnen Takes etwa in BWV 227 'Jesu, meine Freude' kleinere Diskontinuitäten gibt, die das zyklische Erleben berühren. Das schon angesprochene Booklet wirft interessante Fragen auf und vermeidet so die bloße Repetition des sattsam Bekannten: Auch das kann den Wert eines Booklets in oft durchmessenem Repertoire ausmachen.
Frieder Bernius und sein Kammerchor Stuttgart positionieren sich mit dieser Produktion klar in der ersten Reihe der kammerchorischen Interpretationen des Bachschen Motettenwerks. Die unterschiedlichen Charaktere der Einzelwerke werden plastisch herausgearbeitet – darin und auch in der klaren Wahl frischer Tempi zeigt sich die Deutung besonders entschieden. Manche Passage wird fast klassizistisch rein und mit leichter Eleganz geboten, fern aller dräuenden Schwere. Doch entbehrt das klingende Ergebnis nie substanzieller Emotion oder sprachgebundener Intensität. In der Summe ist es eine absolut respektable, unbedingt erstrangige Interpretation.
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Detail-Informationen zum vorliegenden Titel:
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Johann Sebastian Bach: Motetten: BWV 225-230, BWV Anh. 159 |
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Label: Anzahl Medien: Veröffentlichung: Spielzeit: Aufnahmejahr: |
Carus 1 01.11.2012 066:29 2012 |
Medium:
EAN: BestellNr.: |
SACD
4009350832985 8329800 |
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"Der Kammerchor Stuttgart unter Leitung von Frieder Bernius ist einer der besten Chöre weltweit. Besonders die vielen preisgekrönten A-cappella-Aufnahmen haben oft Referenzcharakter. Nun legt Frieder Bernius die lang erwartete Neueinspielung aller Motetten Johann Sebastian Bachs vor. Neben den sechs Motetten BWV 225 bis BWV 230 ist auch „Ich lasse dich nicht“ (BWV Anh. 159) enthalten. Die Aufnahme erscheint in exzellenter SACD-Aufnahmetechnik." |
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Carus Der Name Carus steht weltweit als ein Synonym für höchsten Anspruch und Qualität auf dem Gebiet geistlicher Chormusik. Dies betrifft nicht nur unsere zuverlässigen Noteneditionen vieler zu Unrecht in Vergessenheit geratener Werke. Es ist uns ein besonderes Anliegen, gerade diese Werke - oft als Weltersteinspielungen - auch in exemplarischen Interpretationen durch hochrangige Interpreten und Ensembles auf CD vorzulegen. Der weltweite Erfolg unseres Labels führte zur Erweiterung unseres Katalogs: Neben der Chormusik, die weiterhin den Schwerpunkt des Labels bildet, haben gerade in den letzten Jahren einige Aufnahmen barocker Instrumentalwerke internationale Beachtung gefunden. Unsere Zusammenarbeit mit erstklassigen Interpreten führte zu einer hohen Klangkultur, die mit der Verleihung vieler internationaler Preise honoriert wurde (Diapason d'Or, Preis der Deutschen Schallplattenkritik, Gramophone - Editor's choice). Mehr Info... |
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