
Victoria, Tomás Luis de - Officium Defunctorum 1605
Schwebender Klang
Label/Verlag: Phi
Detailinformationen zum besprochenen Titel
Philippe Herreweghe lässt Tomás Luis de Victorias Requiem in einem leichten Zugriff von sehr persönlichem Zuschnitt singen – überzeugend und eigenständig zugleich.
Dass mit dem tränenschweren Requiem Tomás Luis de Victorias eines der unumstrittenen Meisterwerke der vokalpolyphonen Renaissance gerade dann entstand, als sich die kompositorischen und ästhetischen Gewissheiten jener Epoche schon in Auflösung befanden, ist mehr als ein nur interessanter Aspekt. Nicht selten wird Victorias erfahrungssattes Komponieren daher auch als Quintessenz gesehen, als in dieser kondensierten Form erst am Ende einer langen Entwicklung Mögliches. Ein eindrucksvoller Monolith, ein individuelles Meisterwerk ist dieses Requiem jedenfalls bis in die Gegenwart geblieben.
Sein Satz ist – zumindest im Vergleich zu manch geradezu konstruktivistischer Höchstleistung älterer Meister, etwa Johannes Ockeghems – geradezu schlicht und ebenmäßig, bleibt nah an der gregorianischen Grundlage. Eine affektiv klare Geste der Trauer und Besinnung wird in dieser luftigen und leicht fasslichen Setzweise immer wieder evoziert, wobei die Komposition trotz ihrer satztechnischen Klarheit nie leichtgewichtig oder unterkomplex wirkt. In den dem Programm beigegebenen Motetten aus verschiedenen Schaffensphasen Victorias wird die Ausdruckssphäre des Requiems nur mild erweitert, dominieren trotz eines etwas freieren Satzes weiterhin die getragenen Qualitäten, wird auch hier die für Victoria so typische perfekte Balance von struktureller Präsenz und enormem Klangsinn dokumentiert.
Feiner Ansatz Herreweghes
Es gibt keine unendliche Zahl hochwertiger Aufnahmen des Victoria-Requiems, aber doch eine Reihe maßstabsetzender Produktionen, genannt seien hier die seit über zwei Jahrzehnten prägende Einspielung der Tallis Scholars, dann die deutlich jüngere Version von Harry Christophers’ The Sixteen oder die erst kürzlich veröffentlichte Deutung des ebenfalls englischen Ensembles Tenebrae unter der Leitung Nigel Shorts. Philippe Herreweghe tritt also in ein diskographisch hochklassig besetztes Feld ein, und er tut das mit einem durchaus eigenständigen Ansatz.
Er lässt das sehr schlank besetzte Collegium Vocale Gent in einem schwebenden Ensembleklang singen, leicht und frei die weiten Bögen spannend. Im einzelnen sind es die Soprane Hana Blažiková, Dominique Verkinderen, Juliet Fraser und Zsuzsi Tóth, die Altisten Alex Potter und Alexander Schneider, die Tenöre Stephan Gähler, David Munderloh, Hermann Oswald und Manuel Warwitz sowie die Bässe Peter Kooij, Matthias Lutze und Adrian Peacock. Sie bilden in der Sechsstimmigkeit des Requiems zwar klare und durchaus plastisch Register singen aber doch auf eine harmonische Verschmelzungsfähigkeit hin orientiert und bewegen sich damit unmittelbar in Herreweghes vielfach erprobtem Klangideal. Vor allem die hohen Register zeigen sich präzis und präsent, die Bässe entfalten trotz dreifacher Besetzung eine im Kontrast zu den englischen Vergleichsaufnahmen etwas geringere Wirkung.
Die Intonation des Ensembles ist makellos rein, vorbildlich leicht und ohne äußeren Druck. Damit avanciert sie zu einem wesentlichen Grundelement des schwebenden Klangs. In das weite Gespinst der linearen Bögen werden feine Melismen und Bewegungen überzeugend eingefügt, ohne dass die Statik der Sätze gefährdet würde. Die technische Realisierung des Klangs entspricht diesem Ansatz deutlich mit einem angenehm großen, gleichwohl kontrollierten Raumanteil, der nichts verunklart und zugleich eine ausgewogene Plastizität ermöglicht. Das Booklet punktet mit üppiger Viersprachigkeit, feiner aber zurückhaltender Gestaltung und einem kundigen, wenn auch etwas knappen Text von Bruno Turner.
Herreweghes leichtes Klangideal zeigt einen verlässlichen Weg zum Gehalt des Victoria-Requiems auf. Die englischen Referenzaufnahmen entfalten mit einer ausgeprägteren Klangdifferenz eine etwas eindrucksvollere, quasi entrückte Größe, die den Ewigkeitswert stärker zu betonen scheint. Mit seinen gleichfalls fabelhaften Vokalisten erkundet Herreweghe einen eher persönlichen, oft intimen Zugriff und stellt damit eine sehr interessante Deutung zur Diskussion.
Interpretation: Klangqualität: Repertoirewert: Booklet: |
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Detail-Informationen zum vorliegenden Titel:
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Victoria, Tomás Luis de: Officium Defunctorum 1605 |
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Label: Anzahl Medien: Veröffentlichung: |
Phi 1 01.06.2012 |
Medium:
EAN: |
CD
5400439000056 |
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Phi Der griechische Buchstabe φ (PHI - die Übereinstimmung mit den Initialen von Philippe Herreweghe ist nicht ganz zufällig) versinnbildlicht die Ambitionen des Labels. Er ist das Symbol für den goldenen Schnitt, für die Perfektion, die man in den Staubfäden der Blumen findet, für griechische Tempel, Pyramiden, Kunstwerke der Renaissance oder für die Fibonacci-Zahlenfolge. Seit der frühesten Antike steht dieser Buchstabe im eigentlichen Sinne für Kontinuität beim Streben nach ästhetischer Perfektion. Mehr Info... |
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