
The Britannic Organ Vol.2 - Eine Weihnachtsreise
Budenzauber
Label/Verlag: OehmsClassics
Detailinformationen zum besprochenen Titel
Manch ein Stück auf dieser CD mit Aufnahmen der Welte Philharmonie-Orgel muss eher als Kuriosität gelten, doch gibt es, unter allerhand Flitter, auch echte Preziosen.
Für die Schwesterschiffe Titanic und Gigantic (als Britannic in Dienst gestellt) produzierte um 1912 die Freiburger Firma M. Welte & Söhne zwei Orgeln für gestanzte Lochpapierrollen, sogenannte Welte Philharmonie-Orgeln. Beide Orgeln sind erhalten, wohl weil sie nicht rechtzeitig zur Jungfernfahrt der Titanic fertig wurden; in der Folge fand die Britannic nie als Passagierdampfer Verwendung, sondern wurde im Ersten Weltkrieg als Hospitalschiff genutzt. Während die Orgel der Titanic im Musikautomaten-Museum Bruchsal steht und ihre Authentizität gelegentlich angezweifelt wird, wurde die Orgel der Britannic im Museum für Musikautomaten Seewen (Schweiz) 2007 sorgfältig restauriert und nunmehr für bereits mehrere CDs einer bei Oehms erscheinenden Reihe herangezogen. Anders als etwa das Label Tacet, das sich dem interpretatorischen ‚Welte-Schaffen‘ bestimmter Pianisten oder Schulen annimmt (die Welte Mignon Mystery-Reihe, in der bislang siebzehn Folgen erschienen sind), setzt Oehms auf die Nachschaffung gemischter Programme, wie sie auch in entsprechender Umgebung (Speisesäle feudaler Hotels o. ä.) vorstellbar gewesen wären.
Nun also ‚Weihnachten auf der Britannic‘. Nur vergleichsweise wenig Informationen gibt der umfangreiche Booklettext, der eher die Stimmung des musikalischen Erlebnisses als historische Fakten und Hintergründe zu geben bestrebt ist und auch den einen oder anderen (teilweise groben) musikhistorischen Schnitzer durchgehen lässt. Gerade da jeder einzelne Track auf der CD seine eigene Geschichte hat, ist der Informationsverlust hierdurch nicht gering. In allen Fällen weist der Vermerk ‚(master)‘ darauf hin, dass es sich bei den zu hörenden Stücken um Wiedergaben der originalen Aufnahmerollen handelt; das bedeutet, dass man auf den Rollen sehen kann, wo der Techniker nachträglich Korrekturen vorgenommen hat.
Das Programm der CD enthält Musik aus Deutschland und Frankreich. Die vorliegende CD enthält nur wenige britische Musik, die Aufnahmen entstanden von 1912 bis in die 1920er-Jahre, vornehmlich in der Firmenzentrale in Freiburg i. Br. Das heißt aber nicht, dass die Aufnahmen heute verstaubt klängen. Das Welte-System (wie jene ihrer zeitgenössischen Konkurrenten) lässt sich als Vorläufer des Digitalklaviers und der Digitalorgel verstehen, so dass 1912 aufgenommene Musik 2011 an entsprechenden Abspielgeräten (eben der Orgel der Britannic) in digitaler Klangqualität wiedergegeben werden kann. Wir finden berühmte Weihnachtslieder wie 'Stille Nacht, heilige Nacht' oder 'O Tannenbaum', aber auch Choralvorspiele von Dietrich Buxtehude ('In dulci jubilo'), Johann Pachelbel ('Vom Himmel hoch', 'Allein Gott in der Höh sei Ehr'), Johannes Brahms ('Es ist ein’ Ros entsprungen') oder Günther Ramin (Improvisation über 'Vom Himmel hoch'). Ramin und Karl Matthaei erweisen sich hierbei genuin dem Instrument verbunden und finden die rechten Techniken, um die Möglichkeiten der Kirchenorgel auch auf mechanische Musikdarbietung zu übertragen; Ramin nutzt das Instrument zu einer der frühesten erhaltenen Improvisationen auf Orgel überhaupt. Daneben ist als Klassiker Regers 'Mariä Wiegenlied' op. 76 Nr. 52 zu hören, interpretiert von dem Reger-Freund und -Uraufführungsinterpret Walter Fischer, mit allerhand Freiheiten und nicht authentischen Verzierungen, die den Geist der ‚schlichten Weise‘ aber nicht konterkarieren. Eine Kuriosität ist die seinerzeit Mozart zugeschriebene 'Pastorale variée', eine Welte-Klavierrolle, die 1922 mit nur wenigen Veränderungen zur Orgelrolle umgewandelt wurde, mit bemerkenswerten Pianomomenten, während an anderen Stellen ein Drehorgelcharakter Raum greift.
Von den Franzosen nimmt Alexandre Guilmant einigen Raum ein ('Cantilène pastorale', 'Introductions et Variations sur un anciel noël polonais' und 'Zwei Variationen über Puer nobis nascitur', letztere mit Glockenspielregister), sicherlich nicht die inspirierteste Musik auf der CD, doch voller Farbenfreude vorgetragen durch Reginal Goss-Custard und Johann Jakob Nater. Benjamin Godards 'Bergers et bergères' (ebenfalls mit Glockenspielregister) und Berlioz’ Abschied der Hirten aus 'L’enfance du Christ' komplettieren die französische Abteilung, beide mit interessanter Registerwahl und zwei bekannten Organisten ihrer Zeit, Joseph Bonnet und Walter Fischer. Das ‚Land des Weihnachtsliedes‘ Großbritannien kommt in der Zusammenstellung etwas zu kurz. Offenbar hat die Firma Welte nur wenig Musik dieser Richtung eingespielt. William Faulkes spielt seine eigene 'Rhapsody on French carols', die alle Möglichkeiten der Welte Philharmonie-Orgel auslotet. Beschaulicher geht es da Johann Jakob Nater in 'He shall feed His flock' aus Händels 'Messiah' an, mit wunderbar weichen und samtenen Registern und einer beeindruckenden, angemessen weihnachtlichen Steigerung.
Insgesamt ist die Vielfalt der Einspielungen beeindruckend, doch immer wieder wirkt die Nutzung des Schwellwerks ein wenig merkwürdig ('Cantilène pastorale', 'Es ist ein’ Ros entsprungen', 'Mariä Wiegenlied', 'He shall feed His flock') – vielleicht wirkt der Mechanismus durch die klare, unmittelbare Aufnahmetechnik zu direkt und man müsste die CD in größeren Sälen abspielen. Manch ein Stück auf der CD muss eher als Kuriosität gelten, doch gibt es, unter allerhand Flitter, auch echte Preziosen.
Interpretation: Klangqualität: Repertoirewert: Booklet: |
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Detail-Informationen zum vorliegenden Titel:
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The Britannic Organ Vol.2: Eine Weihnachtsreise |
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Label: Anzahl Medien: Veröffentlichung: |
OehmsClassics 1 01.01.2012 |
Medium:
EAN: |
CD
4260034868427 |
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OehmsClassics Ein erfülltes Leben ist ohne Musik kaum denkbar. Musik spiegelt unsere Wahrnehmung der Umwelt und die Realität heutiger wie vergangener Zeiten. Gute Musik ist immer neu, immer frisch, immer wieder entdeckenswert. Deshalb bin ich überzeugt: Es gibt nicht -die- eine, definitive, beste Interpretation der großen Werke der Musikgeschichte. Und genau das macht klassische Musik so spannend: Jede Musikergenerationen experimentiert, entdeckt neue Blickwinkel, setzt unterschiedliche Schwerpunkte - derselbe Notentext wird immer wieder von anderen Strömungen belebt. Deshalb ist ein Musikstück, egal aus welchem Jahrhundert, auch immer Neue Musik. OehmsClassics hat es sich zur Aufgabe gemacht, am Entdecken der neuen Seiten der klassischen Musik mitzuwirken. Unser Respekt vor den künstlerischen Leistungen der legendären Interpreten ist gewiss. Unser Ziel als junges CD-Label sehen wir jedoch darin, den interpretatorischen Stil der Gegenwart zu dokumentieren. Junge Künstler am Anfang einer internationalen Karriere und etablierte Künstler, die neue Blickwinkel in die Interpretationsgeschichte einbringen - sie unterstützen wir ganz besonders und geben ihnen ein Forum, um auf dem Tonträgermarkt präsent zu sein. Sie, liebe Musikhörer, bekommen damit die Gelegenheit, heute die Musikaufführung zu Hause nachzuvollziehen, die Sie gestern erst im Konzertsaal oder Opernhaus gehört haben. Wir laden Sie ein, gemeinsam mit uns die neuen Seiten der klassischen Musik zu erleben!
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