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Dienstag, 5. Dezember 2023

Ponchielli, Amilcare - La Giocconda

Spektakulär


Label/Verlag: Immortal Performances
Detailinformationen zum besprochenen Titel


Ponchiellis 'La Gioconda' veröffentlicht Immortal Performances in einem herausragenden Mitschnitt, der nicht nur klanglich überzeugt, sondern vor allem auch musikalisch. Die Sänger sind hinreißend.

Amilcare Ponchielli kennt man heute, da das Zeitalter der großen Primadonnen vorüber ist, wenn überhaupt, dann nur noch durch den ‚Tanz der Stunden‘ aus 'La Gioconda', dem großen vieraktigen lyrischen Drama auf ein Libretto Arrigo Boitos (unter dem Pseudonym Tobia Gorrio) nach einem Theaterstück Victor Hugos. Eine überaus erfolgreiche Komposition war die Oper seinerzeit, trafen Boito und Ponchielli mit der an Sensationen reichen Handlung einen Nerv der Zeit. Da gibt es heimliche und verbotene Liebschaften, wilde Leidenschaften, Lust, Gier, Verschwörungen, ein in Flammen versinkendes Schiff, Verwicklungen, Verrat, eine Scheintote, Mord und Selbstmord – deutlich mehr, als in eine Verdi-Oper gepasst hätte, aber vielleicht gerade darum so attraktiv fürs Publikum.

Der Geschmack hat sich seither verändert, die Vielfalt an Ereignissen ist heutigen Regisseuren häufig zu viel, die Musik nur noch wenigen Liebhabern bekannt. Das war bis etwa 1960 noch anders. Profilierte Singdarsteller fanden sich immer wieder zusammen, um dem Werk adäquate Präsentationen zu bieten. So auch die Metropolitan Opera New York, die die Opera 1939 nach zweijähriger Pause wieder auf das Programm setzte. Der NBC-Mitschnitt vom 30. Dezember bietet zum ersten Mal das ungekürzt erhaltene, sorgsam aufgearbeitete Klangmaterial der Oper. Vom ersten Takt an haben wir nicht das Gefühl, einen Rundfunkmitschnitt zu hören (hierfür ist der Klang zu klar, trotz der erhalten gebliebenen Störgeräusche, die wegzuretuschieren der Aufnahme viel von ihrem Charakter genommen hätte). Was wir hier erleben, ist ein aufregendes Live-Erlebnis, wie es heute kaum noch vorstellbar ist, mit einem bestens aufgelegten Orchester und in Ettore (Héctor) Panizza einem Dirigenten, der in bester italienischer Tradition aufgewachsen war und unter andere als erster 'Turandot' mit Alfanos Schluss dirigierte (Arturo Toscanini hatte bei der Uraufführung das Werk in unvollendeter Form spielen lassen). Panizzas Energie und Gefühl für Timing führen zu einer außerordentlich geschlossenen Leistung nicht nur des Orchesters. Auch der Chor zeigt sogleich eine Prägnanz, der es heute zahlreicher renommierter Opernchöre mangelt.

Auch Panizzas Solisten sind ein Fest. Barnaba, der Polizeispion – ein eindeutiger Vorgänger Iagos und Scarpias – ist mit dem heute vergessenen italienischen dramatischen Bariton Carlo Morelli (1897-1970) luxuriös besetzt. Seine große Szene 'O monumento' im ersten Akt beeindruckt, auch wenn Morelli nicht ganz mit den größten Interpreten der beiden anderen genannten Rollen mithalten kann. Die amerikanische Mezzosopranistin Anna Kaskas (1907?–1998) bietet mit ihrer warmen, vielleicht höchstens zu jung klingenden Stimme eine wunderbare Darbietung der dankbaren Rolle der blinden Mutter der Gioconda (nur einmal rutscht sie am Ende eines Solos merklich).

Enzo Grimaldo, eine etwas stupide Tenorrolle, wird geboten durch den legendären Giovanni Martinelli (1885–1969), einen veritablen Künstler mit fabelhaftem Stimmsitz und ebensolcher Phrasierung, dazu herrlichem Mezzapiano und Piano, der aber – bereits über 50-jährig! – der großen Arie 'Cielo e mar!' den atmosphärischen Zauber schuldig bleibt. Wie viele heutige Sänger auf dem Gipfel ihrer Fähigkeiten werden diese in Vielem modellhaften Darbietung (was für mühelose Spitzentöne!) neidisch beäugen!

Enzos Angebetete ist Laura, hier gegeben von Bruna Castagna (1896–1983). Sie hat nicht viel zu singen (ihr Solo 'Stella del marinar!' aus dem zweiten Akt fehlt im Mitschnitt), doch wird sie von ihrem Ehemann im dritten Akt in den Selbstmord getrieben (der durch die Gioconda verhindert wird). Was sie aus der kleinen Phrase 'Ho il cor gonfio di lagrime' herausholt, zeigt ihre große Kunst, ebenso ihr Duett mit der Gioconda kurz darauf. Ihren Ehemann Alvise spielt Nicola Moscona (1907–1975), seit 1937 als Erster Bass an der Metropolitan Opera tätig. Ihm mag es an der Dämonie eines Cesare Siepi mangeln, doch hat er dafür eine Noblesse, die seiner Rolle eines venezianischen Edelmannes und Hauptes der Inquisition durchaus angemessen ist. Vielleicht gerade durch dieses Understatement wirkt er umso gefährlicher.

Die Gioconda ist Zinka Milanov, eine Diva wie sie im Buche steht, von uneingeschränktem Selbstvertrauen und voller vokaler Leidenschaft. Vergleicht man mit Callas, so hat man in der Tat eine Stimme ähnlicher Emotionalität, aber – zumindest in diesem Mitschnitt – deutlich größerer vokaler Farbigkeit. Hier ist keine Phrase unbedeutend, kein Moment nebensächlich. Milanov weiß, wie man das Publikum packt und nicht mehr loslässt. Ihre Phrasierung, ihre dynamischen Schattierungen ebenso wie ihre (musikalisch selten übertriebenen) Ausbrüche geben der Gioconda ein unverwechselbares Gepräge. Ganz ohne Frage ist Milanov der Star des Abends, jedoch eingebettet in eine sehr überzeugende Gesamtleistung aller.

Wie bei Immortal Performances üblich, werden die originalen Rundfunkkommentare bewahrt – für Amerikanophile vielleicht ein historisches Erlebnis, für den Rezensenten unnötiges, weil vom musikalischen Erleben ablenkendes Beiwerk. Da stört der gelegentlich hörbare Souffleur deutlich weniger – eben weil er Teil des musikalischen Erlebens ist. Interessante Boni sind ein Interview-Ausschnitt mit Milanov und ein Teil eines Vortrages von Martinelli sowie ein kurzes Stück aus Ponchiellis Oper 'I Lituani'. Insgesamt ist das Booklet umfassend, mit einem sehr kenntnisreichen ausführlichen Beitrag des im März verstorbenen renommierten Kritikers John Steane, einem erläuternden Kurzessay des Tontechnikers Richard Caniell, einer umfangreichen Inhaltsangabe sowie Lebensläufen (bei denen ein paar Daten leider nicht ganz stimmen); bei einem derartigen Umfang ist es nur selbstverständlich, dass sämtliche Texte nur in Englisch vorliegen.

Die klangtechnische Aufarbeitung der Oper ist phänomenal. Nur an ganz wenigen Momenten, etwa beim Trackwechsel zwischen 11 und 12 auf CD 1, merkt man, welche Hindernisse Richard Caniell zu überwinden hatte. Die ihm vorliegenden Materialien waren längst nicht von einheitlicher Qualität. Doch für einen Mitschnitt von 1939 muss man von einem klangtechnischen Wunder sprechen – die von Caniell im Booklet erwähnte gelegentliche Unbalance zwischen den Solisten durch die Mikrofonplatzierung stört nicht wirklich, sondern trägt vielmehr zu einem lebendigen Live-Erlebnis bei. Bis mindestens Anfang der 1960er-Jahre entstanden in Europa nicht selten klangtechnisch minderwertigere Live-Mitschnitte. Geringfügig anders steht es mit Beginn und Ende des Milanov-Interviews – sie werden ein- und ausgeblendet, waren offensichtlich Teil von etwas Größerem, aber von was? Man erfährt es nicht. Der Vortrag von Martinelli ist von beeindruckender Präsenz. Von einer Schallplatte wurde der Ausschnitt aus 'I Lituani' beigefügt, aus einer RAI-Aufführung von 1979 – das Booklet verschweigt Aufnahmedatum und -ort, so dass gerade das Ende einer ansonsten beeindruckenden, wichtigen Produktion leider durch zwei fehlende Sätze im Booklet geringfügig beeinträchtigt wird.

Interpretation:
Klangqualität:
Repertoirewert: 
Booklet:





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Detail-Informationen zum vorliegenden Titel:



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    Ponchielli, Amilcare: La Giocconda

Label:
Anzahl Medien:
Immortal Performances
3
Medium:
EAN:

CD
625989649820


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Immortal Performances

Immortal Performances returns with new CD releases, this time on its own label. This Canadian-based, federally chartered, non-profit archive has gathered a huge number of historic broadcasts gathered over a 50-year period. Their first 48 albums were released by Naxos, followed with 53 albums by Guild Music. Both companies originally formed their Historical label series in order to release Immortal Performances? restorations. Immortal Performances has spent the past three years searching for the original and finest sources of many historic broadcasts. It has now assembled 48 CD albums of exceptional importance that it proposes to release, the first 8 sets of which are available now. These albums offer the finest sound in the historic-era genre and include extensive notes about the singers, the performance and composer, with biographies and rare production photos. Immortal Performances will continue releasing complete Toscanini broadcasts (1935-1954), exciting recordings from the Metropolitan Opera and European Opera Houses, the Russian Legacy as well as operatic broadcasts in association with Busch Brüder Archiv in Germany and the National Library of Canada. Richard Caniell, its archivist and chief guiding light says, ?I hope our forthcoming releases will corroborate our logos, The Ultimate in Historic Broadcast Recordings.?


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