
Reinecke, Carl - Works for Piano Duo
Kino im Kopf
Label/Verlag: ARS Produktion
Detailinformationen zum besprochenen Titel
Dian Baker und Eckart Sellheim faszinieren mit einer Aufnahme bislang nicht eingespielter Werke von Carl Reinecke für Klavierduo.
Hätte man vor etwa 150 Jahren gefragt, wer Carl Reinecke ist – die Menschen wären (zumindest im Raum Leipzig) kopfschüttelnd davongelaufen. Denn da war der 1824 in Altona geborene, vom jungen Liszt früh entdeckte, mit Mendelssohn und Schumann befreundete Pianist und Komponist schon eine gefestigte Persönlichkeit des Leipziger Musiklebens. Und dies sollte er auch bis zu seinem Tod im Jahre 1910 bleiben. Während seiner Zeit in Leipzig leitete er nicht nur die Gewandhauskonzerte, er komponierte stets und unterrichtete auch am Leipziger Konservatorium. An eben jener von Felix Mendelssohn Bartholdy 1843 gegründeten Einrichtung, an der Reinecke 1843/44 selbst zu Gast war und Mendelssohn sogar einige seiner Werke zur Prüfung vorlegte. Während dieser Studien- und Reisejahre entstand unter anderem die Sonate a-Moll op. 35 (datiert auf 1845) für Klavier zu vier Händen, der sich Dian Baker und Eckart Sellheim auf ihrer CD als erstes widmen.
Die Interpreten greifen auf einen Erard-Flügel aus dem Jahr 1839 zurück, der aus der Sammlung Historischer Tasteninstrumente des WDR in Köln stammt. Wenn man sich auf die eher perkussiven Klänge nah am Hammerklavier einstellt, überraschen die dunklen, drängenden ersten Takte des 'Allegro molto moderato'. Der Erard-Flügel klingt ungemein durchsichtig und trägt in allen Lagen – ein großer Verdienst des Duos Baker-Sellheim ist. Den spezifischen, reizenden Klängen nachlauschend folgt man den Stücken, die seit über 150 Jahren zum ersten Mal eingespielt wurden. Und was das für Klänge sind! Ob des Farbenreichtums verfliegen die gut sieben Minuten, die der erste Satz füllt. Das folgende 'Andantino' beginnt unbeschwert. Von tiefen Bässen getragen, gelangt man für einige Momente in die Stimmung eines Nachtstücks, doch vergeht der kurze Traum und man findet sich frühlingshaft dort wieder ein, wo die Reise begann.
Die charmante mit 'Scherzino: Allegretto grazioso' bezeichnete Einlage tänzelt, stolpert fast in das stürmische Finale. Im ausgelassenen 'Vivace ma non troppo' offenbart das Duo abermals Fingerfertigkeit, präzise Abstimmung in Phrasierung, Dynamik und Artikulation – und nicht zuletzt hörbares Engagement. Das Finale verklingt in zur Ruhe gekommenen Erinnerungen. Gemeinsam musikalisch atmend und mit exzellent abgestimmten Rubati gelingen Dian Baker und Eckart Sellheim spannende Augenblicke. Und klänge das Klavier nicht vielschichtig wie ein Orchester, man vergäße, dass hier nur zwei daran sitzen.
Ebenfalls in den Jahren seines Studiums schrieb Carl Reinecke die 'Drei kleinen Fantasien' op. 9. Dieses kleine Ensemble aus fantasievollen Charakterstücken entwickelt in seiner Abfolge eine große Lebendigkeit. Nr. 1, mit 'Lento – Moderato' überschrieben, macht einen rührend lyrischen Auftakt, Nr. 2 'Andantino serioso' folgt etwas bewegter und nimmt sich gar nicht so ernst aus wie es das Wort ‚serioso‘ vermuten lässt. Nr. 3 'Allegretto (Frisch und mit Leben)' schlussendlich öffnet sich wie Fensterläden an einem belebten Marktplatz und endet ebenso unbekümmert. Das Duo malt hier liebevoll kleine impressionistische Bilder, Momentaufnahmen, die verflogen sind, bevor man sie recht zu fassen bekam. Die Aufnahme enthält außerdem zwei Variationszyklen. Chronologisch an erster Stelle stehen dabei die Variationen über eine Sarabande von J. S. Bach op. 24. Sie entstanden im Jahre 1849. Reinecke schickte seine erste Fassung Robert Schumann, der daraufhin wohlgesonnen zurückschrieb und eine weitere Überarbeitung vorschlug. Und so schrieb Reinecke später ein neues Finale und das Werk wurde 1852 ebenso veröffentlicht, wie wir es heute auf der Aufnahme finden. In den acht Variationen wird das getragene Thema herumgewirbelt, in sich verschlungen und kommt erst gegen Ende wieder etwas zur Ruhe. Nachdem das perlende Finale sich auf einem Schlussakkord eingefunden hat, folgt noch einmal eine Idee des Themas, das jetzt schwebend wie in neuen Sphären erklingt.
Ein Werk aus seinem späteren Schaffen stellen Reineckes 'Improvisata' über eine Gavotte von Christoph Willibald Gluck op. 125 dar, komponiert im Jahre 1873. Hat man sich Carl Reinecke bisher als den zurückhaltenden Herren mit Backenbart vorgestellt, sieht man ihn jetzt eher, wie er, während er lustige Grimassen schneidet, seinen Mitmenschen gelegentlich ein paar Streiche spielt. Ein kleiner Schelm, der sich ein Stückchen Kindheit bewahrt hat. Denn anders kann man sein Bild wohl nicht mit den verspielten 'Improvisata' in Einklang bringen. In den zehn Sätzen mit Finale fliegen die Motive des schlichten Themas von Ch. W. Gluck nur so durch die Luft, springen einem aus jedem Register des Klaviers entgegen. Man gerät in Verwirrung, waren es nur vier, sechs oder noch mehr Hände? Dian Baker und Eckart Sellheim werfen sich selbst im hohen Tempo die musikalischen Häppchen noch herrlich plaudernd zu, es plätschern die Läufe und gemeinsame Akkorde wie aus einem Guss lassen die Saiten beben.
Reinecke komponierte sein erstes Stück als 7-Jähriger, sein letztes 85-jährig. 288 seiner Werke tragen eine Opuszahl, doch existieren noch viele weitere nicht in die Werkzählung aufgenommene. Umso dankenswerter ist diese Aufnahme, denn durch das Projekt einer Ersteinspielung erhält Reinecke seine kleine Renaissance, die er wahrlich verdient hat. Stetig, mit viel Mühe und Freude schuf er farbige und ehrliche Musik, die viel zu schade zum Vergessen wäre.
Reinecke widmete sich auch der Musik für Kinder, sei es vierhändig im Tonraum von fünf Tasten oder in der Oper. Er schrieb Werke mit dem Titel 'Kinderlieder' und Musik zu Märchen und Erzählungen. So findet sich unter seinen letzten Werken noch Musik zu Andersens "Märchen vom Schweinehirten" op. 286, dem abschließenden Werk der vorliegenden Aufnahme. Erschienen ist das Stück noch im Todesjahr des Komponisten. Sieben Stücke umfasst das Werk und verwendet vor allem Elemente aus der ersten Hälfte des Märchens. Die Ouvertüre öffnet den Vorhang zu Andersens bunter Märchenwelt, die Dian Baker und Eckart Sellheim mit großer Klangpalette zeichnen, und wo sie – mit feinem Gespür für die zerbrechlichen, magischen Dinge der Erzählung – von der Rose, der Nachtigall oder dem singenden Topf erzählen. Und wenn die letzten Töne des Fackeltanzes verklungen sind, ist es wie im Kino, wenn nach der Vorstellung das Licht angeht und man an den müden Gliedern merkt, dass man die letzten Stunden im Film versunken war. So fühlt es sich an, zur Lektüre von Andersens Märchen vom Schweinehirten Reineckes Musik zu hören – Kino im Kopf.
Interpretation: Klangqualität: Repertoirewert: Booklet: |
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Detail-Informationen zum vorliegenden Titel:
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Reinecke, Carl: Works for Piano Duo |
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Label: Anzahl Medien: Veröffentlichung: |
ARS Produktion 1 01.03.2011 |
Medium:
EAN: |
CD
4260052384954 |
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