
Czernowin, Chaya - shifting gravity
Der Schwerkraft enthoben
Label/Verlag: WERGO
Detailinformationen zum besprochenen Titel
Eine neue Portrait-CD zur Musik Chaya Czernowins präsentiert Musik, die fernab überkommener musikalischer Logik neue klangliche Systeme schafft.
Die Zeit ist aus den Angeln: Diese Feststellung aus Shakespeares ‚Hamlet‘ charakterisiert die Musik von Chaya Czernowin in prägnanter Weise. Czernowins Kompositionen beschäftigen sich seit einiger Zeit mit der Entfaltung biologischer Phänomene, denen gegenüber die emotionale Seite zunächst in den Hintergrund tritt, um auf Umwegen umso kraftvoller ins Feld zu ziehen. Naturgesetze – ob musikalischer oder andere Art – werden gleichsam auf den Kopf gestellt, und in den Instrumentalwerken, die auf einer neuen Portrait-CD aus dem Hause WERGO versammelt sind, entstehen für eine relativ kurze Zeit ganz eigenständige Systeme. Neben den 'Winter Songs III' für Ensemble und Elektronik ist hier der Zyklus 'Shifting Gravity' aus dem Jahre 2008 zu hören, eine Sammlung von fünf Werken für Streichquartett respektive Septett oder ein Quartett aus Saxophon, E-Gitarre, Klavier und Schlagzeug.
Ebenjenes Stück, 'Sahaf' betitelt, steht für das Interesse Czernowins, klangfarbenreiche Besetzungen neu zu erkunden, in diesem Fall verstärkt durch die besondere Mischung von analoger und elektronischer Klangerzeugung. Das junge Ensemble Nikel liefert eine beispielgebende Interpretation und zeigt damit auch, dass neue Wege immer wieder den Impuls einer jungen Generation brauchen, die sich nicht mit den alten (Besetzungs-)Konventionen zufrieden geben will.
Auf den ersten Blick konventioneller wirken die Streichquartette 'Seed I' und 'Seed II', hier in Interpretationen des Quatuor Diotima zu hören. Der Zyklus beinhaltet jedoch ein drittes Werk, 'Anea', das aus einer Überlagerung der beiden Quartette besteht, hier realisiert durch Live-Spiel zu einer vorproduzierten Quartett-Schicht. Die durchaus vorhandene starke emotionale Ansprache dieser Musik entsteht vor allem durch das Aufeinandertreffen verschiedener Systeme in der Überlagerung der beiden Partituren: Die gestische Prägnanz des ersten Quartetts und die biologischen Wucherungen des zweitens erzeugen eine Energie, die dem Hörer bisweilen den Boden unter den Füßen entzieht, ihn über die Grenzen einer klar nachvollziehbaren musikalischen Logik trägt und Einblicke in unbekannte und komplexe Strukturfelder ermöglicht.
In den 'Winter Songs', gut fünf Jahre vor 'Shifting Gravity' entstanden, kommt eine eher emotionale Seite der Musik Czernowins zutage, die eine Vielzahl von suggestiven Klängen in einer düsteren Grundstimmung malt. Czernowins Musik ist hier im Bereich der Recherche anzusiedeln, die alle Ausdrucksklischees meidet und dabei stets auf den Moment ihrer Entstehung verweist. Zu gesampelten Klängen entstehen Texturen, die nicht umsonst in der Partitur mit der Spielanweisung ‚frozen‘ beschrieben sind. Solch eine unter die Haut gehende Emotionalität kann unangenehm und simpel wirken, wenn Struktur und Oberfläche in eins fallen. Chaya Czernowins Musik reflektiert und hinterfragt sich jedoch stets selbst und ist so vor allzu dienstbarem Oberflächenglanz gefeit. In ihrer steten Suche nach neuen Verhältnismäßigkeiten ist diese Musik wie kaum eine andere am Puls der Zeit situiert.
Interpretation: Klangqualität: Repertoirewert: Booklet: |
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Detail-Informationen zum vorliegenden Titel:
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Czernowin, Chaya: shifting gravity |
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Label: Anzahl Medien: Veröffentlichung: |
WERGO 1 01.02.2011 |
Medium:
EAN: |
CD
4010228672626 |
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WERGO Als 1962 die erste Veröffentlichung des Labels WERGO erschien - Schönbergs "Pierrot lunaire" mit der Domaine musicale unter Pierre Boulez -, war dies ein Wagnis, dessen Ausgang nicht abzusehen war. Werner Goldschmidt, ein Kunsthistoriker, Sammler und Enthusiast im besten Sinne, war es, der - gemeinsam mit dem Musikwissenschaftler Helmut Kirchmayer - den Grundstein zu dem Label legte, das seit inzwischen 50 Jahren zu den führenden Labels mit Musik unserer Zeit zählt. Mehr Info... |
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