
Mahler, Gustav - Sinfonie Nr.4 in G-Dur
Einstand
Label/Verlag: Phi
Detailinformationen zum besprochenen Titel
Philippe Herrweghes Einstand bei seinem Hauslabel Phi gerät durchwachsen. Seine Interpretation der Vierten Sinfonie von Gustav Mahler hat schöne Momente, ist insgesamt jedoch etwas spannungslos geraten.
Jüngst ging der belgische Dirigent Philippe Herreweghe den Weg, den sein Kollege der Alte-Musik-Bewegung John Eliot Gardiner vor einiger Zeit eingeschlagen hat, und gründete sein eigenes Label mit dem Namen Phi (wobei Herreweghe, nebenbei bemerkt, bislang mit Harmonia Mundi ein Label ganz anderen Zuschnitts und Formats zur Seite hatte als der bei Universal veröffentlichende Gardiner). Als erste Platte seines Hauslabels brachte Herreweghe nun eine Einspielung der Vierten Sinfonie von Gustav Mahler auf den Markt.
Herrweghe wagt sich zusammen mit seinem auf historische Instrumente zurückgreifenden Orchestre des Champs-Elysées in Repertoire-Bereiche vor, die nur wenige seiner Kollegen historisch informierter Aufführungspraxis betreten; allenfalls Jos van Immerseel stieß mit seinen Aufnahmen russischer Orchesterwerke und seiner Ravel-Platte in derart ‚junge‘ Repertoiresparten vor. Herreweghe selbst hat bereits vor einiger Zeit Teile von Mahlers Liedschaffen diskographisch erschlossen, und so durfte man der vorliegenden Aufnahme durchaus mit freudiger Erwartung entgegensehen. – Leider werden die hohen Erwartungen nicht ganz erfüllt.
Ruppige Tempoübergänge
Sicher, wenn man Herreweghes – klanglich erstrangig geratene – Einspielung hört, merkt man, dass jedes minutiös notierte Detail der Partitur eine klangliche Entsprechung findet, seien es Portamenti, Tempo- oder andere spieltechnische Angaben. Und doch fehlt Herreweghes Deutung etwas, das nicht nur mit klanglichen Aspekten zu tun hat, etwa der relativen Schwäche der Geigen, die sich insbesondere im dritten Satz offenbart. Es sind vor allem interpretatorische und spieltechnische Aspekte, die zum Eindruck beitragen, es handele sich um eine gewissermaßen leichtgewichtige Mahler-Lesart (wenn auch durchaus inniger als die straight-ahead-Interpretationen von Roger Norrington). Da sind zum einen Tempowechsel, die zwar genau dort stattfinden, wo sie Mahler fordert. Aber es fehlt an der Vermittlung zwischen den Modifikationen des Hauptzeitmaßes, genau jenem Aspekt, der dem Meister orchestralen Rubatos, Iván Fischer, in seiner vor Kurzem erschienenen Aufnahme dieser Sinfonie so herrlich geglückt ist. Herreweghe kommt zwar von einer Tempostufe in die nächste, aber auf allzu kurzer Strecke, mitunter sogar mit krassen Brüchen. Es fehlt ein wenig am Mit-Atmen, an der musikalischen Ausfüllung jeder Figur mit Charakter und Stimmungssättigung. So fehlt es dem in großen Bögen schwingenden langsamen Satz an Ruhe und vor allem an große Dimensionen überbrückender Spannung; viele Phrasen hören auf, wenn der (Artikulations-)Bogen endet – obwohl die kantable Linie noch weitergeht.
Texttreu
Neben der Tempogestaltung sind es Aspekte der Spieltechnik, die hier nicht recht überzeugend wollen. Dass die Streicher mit wohl dosiertem Vibrato aufwarten, ist erfreulich. Nicht aber, dass ihr Ton keinen ‚Unterhalt‘ hat – der Klang wird nicht von einem Glutstrom musikalischer Spannkraft getragen, der weiterginge, obwohl ein neuer Ton zu artikulieren ist. Das zeigt sich vor allem in den Vorhaltfiguren im Kopfsatz, die hier merkwürdig ‚klassisch‘ daherkommen, als wäre die Sinfonie 100 Jahre früher entstanden oder auch in Forzandi innerhalb einer Piano-Umgebung: Herreweghe lässt sie ähnlich forsch spielen, als stünden sie in einem Forte-Kontext.
Freilich ist die Vierte wohl Mahlers ‚klassischste‘ Sinfonie, und Herreweghe tut gut daran, ihre Kontrapunktik, die kanonischen Führen, das Ineinander-Weben von teils gleichberechtigen Ober- und Unterstimmen transparent zu machen –unterstützt von einem durchweg energisch agierenden Orchester, das die Direktiven seines Leiters punktgenau umsetzt, wenn auch, wie im Scherzo, nicht mit letzter Akkuratesse. Letztlich fehlt aber doch etwas dirigentische Expertise, um Mahlers Satz so fein aufzudröseln, wie dies etwa Fritz Reiner konnte. Da helfen – so schöne und farbenreiche Klänge sie auch produzieren – die historischen Instrumente nicht so viel, um von sich aus die Durchsichtigkeit des Klangbilds zu garantieren.
Vokal-orchestrales Auseinanderklaffen
Am wenigsten verständlich ist aber, dass Herreweghe für das Finale, in dem Dirigent eher auf kleine Tempokontraste setzt und damit die Stimmungswelten aneinanderrückt, mit Rosemary Joshua eine Sängerin engagiert hat, die sich mit ihrem durchaus satten Vibrato in die Klanglichkeit des Orchesters kaum einfügen kann. Ihre Diktion wirkt manchmal recht schwerfällig, und so ist ihre Deutung des „Himmlischen Lebens“ von der jugendlich-unschuldigen (und gerade dadurch grotesk-bezwingenden) Interpretation großer Sängerinnen der Vergangenheit doch recht weit entfernt.
Nicht verschwiegen sei jedoch, dass trotz der ziemlich spannungslosen Darstellung größerer Zusammenhänge einige Momente ganz exquisit geraten sind, etwa im langsamen Satz, und auch der Kopfsatz wartet mit manch geschärfter Tönung auf, die man bei Aufnahmen mit modernem Instrumentarium so nicht zu hören bekommt.
Interpretation: Klangqualität: Repertoirewert: Booklet: |
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Detail-Informationen zum vorliegenden Titel:
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Mahler, Gustav: Sinfonie Nr.4 in G-Dur |
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Label: Anzahl Medien: Veröffentlichung: |
Phi 1 01.01.2011 |
Medium:
EAN: |
CD
5400439000018 |
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Phi Der griechische Buchstabe φ (PHI - die Übereinstimmung mit den Initialen von Philippe Herreweghe ist nicht ganz zufällig) versinnbildlicht die Ambitionen des Labels. Er ist das Symbol für den goldenen Schnitt, für die Perfektion, die man in den Staubfäden der Blumen findet, für griechische Tempel, Pyramiden, Kunstwerke der Renaissance oder für die Fibonacci-Zahlenfolge. Seit der frühesten Antike steht dieser Buchstabe im eigentlichen Sinne für Kontinuität beim Streben nach ästhetischer Perfektion. Mehr Info... |
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