> > > Mahler, Gustav: Sinfonie Nr.4 in G-Dur
Samstag, 23. September 2023

Mahler, Gustav - Sinfonie Nr.4 in G-Dur

Einstand


Label/Verlag: Phi
Detailinformationen zum besprochenen Titel


Philippe Herrweghes Einstand bei seinem Hauslabel Phi gerät durchwachsen. Seine Interpretation der Vierten Sinfonie von Gustav Mahler hat schöne Momente, ist insgesamt jedoch etwas spannungslos geraten.

Jüngst ging der belgische Dirigent Philippe Herreweghe den Weg, den sein Kollege der Alte-Musik-Bewegung John Eliot Gardiner vor einiger Zeit eingeschlagen hat, und gründete sein eigenes Label mit dem Namen Phi (wobei Herreweghe, nebenbei bemerkt, bislang mit Harmonia Mundi ein Label ganz anderen Zuschnitts und Formats zur Seite hatte als der bei Universal veröffentlichende Gardiner). Als erste Platte seines Hauslabels brachte Herreweghe nun eine Einspielung der Vierten Sinfonie von Gustav Mahler auf den Markt.

Herrweghe wagt sich zusammen mit seinem auf historische Instrumente zurückgreifenden Orchestre des Champs-Elysées in Repertoire-Bereiche vor, die nur wenige seiner Kollegen historisch informierter Aufführungspraxis betreten; allenfalls Jos van Immerseel stieß mit seinen Aufnahmen russischer Orchesterwerke und seiner Ravel-Platte in derart ‚junge‘ Repertoiresparten vor. Herreweghe selbst hat bereits vor einiger Zeit Teile von Mahlers Liedschaffen diskographisch erschlossen, und so durfte man der vorliegenden Aufnahme durchaus mit freudiger Erwartung entgegensehen. – Leider werden die hohen Erwartungen nicht ganz erfüllt.

Ruppige Tempoübergänge

Sicher, wenn man Herreweghes – klanglich erstrangig geratene – Einspielung hört, merkt man, dass jedes minutiös notierte Detail der Partitur eine klangliche Entsprechung findet, seien es Portamenti, Tempo- oder andere spieltechnische Angaben. Und doch fehlt Herreweghes Deutung etwas, das nicht nur mit klanglichen Aspekten zu tun hat, etwa der relativen Schwäche der Geigen, die sich insbesondere im dritten Satz offenbart. Es sind vor allem interpretatorische und spieltechnische Aspekte, die zum Eindruck beitragen, es handele sich um eine gewissermaßen leichtgewichtige Mahler-Lesart (wenn auch durchaus inniger als die straight-ahead-Interpretationen von Roger Norrington). Da sind zum einen Tempowechsel, die zwar genau dort stattfinden, wo sie Mahler fordert. Aber es fehlt an der Vermittlung zwischen den Modifikationen des Hauptzeitmaßes, genau jenem Aspekt, der dem Meister orchestralen Rubatos, Iván Fischer, in seiner vor Kurzem erschienenen Aufnahme dieser Sinfonie so herrlich geglückt ist. Herreweghe kommt zwar von einer Tempostufe in die nächste, aber auf allzu kurzer Strecke, mitunter sogar mit krassen Brüchen. Es fehlt ein wenig am Mit-Atmen, an der musikalischen Ausfüllung jeder Figur mit Charakter und Stimmungssättigung. So fehlt es dem in großen Bögen schwingenden langsamen Satz an Ruhe und vor allem an große Dimensionen überbrückender Spannung; viele Phrasen hören auf, wenn der (Artikulations-)Bogen endet – obwohl die kantable Linie noch weitergeht.

Texttreu

Neben der Tempogestaltung sind es Aspekte der Spieltechnik, die hier nicht recht überzeugend wollen. Dass die Streicher mit wohl dosiertem Vibrato aufwarten, ist erfreulich. Nicht aber, dass ihr Ton keinen ‚Unterhalt‘ hat – der Klang wird nicht von einem Glutstrom musikalischer Spannkraft getragen, der weiterginge, obwohl ein neuer Ton zu artikulieren ist. Das zeigt sich vor allem in den Vorhaltfiguren im Kopfsatz, die hier merkwürdig ‚klassisch‘ daherkommen, als wäre die Sinfonie 100 Jahre früher entstanden oder auch in Forzandi innerhalb einer Piano-Umgebung: Herreweghe lässt sie ähnlich forsch spielen, als stünden sie in einem Forte-Kontext.

Freilich ist die Vierte wohl Mahlers ‚klassischste‘ Sinfonie, und Herreweghe tut gut daran, ihre Kontrapunktik, die kanonischen Führen, das Ineinander-Weben von teils gleichberechtigen Ober- und Unterstimmen transparent zu machen –unterstützt von einem durchweg energisch agierenden Orchester, das die Direktiven seines Leiters punktgenau umsetzt, wenn auch, wie im Scherzo, nicht mit letzter Akkuratesse. Letztlich fehlt aber doch etwas dirigentische Expertise, um Mahlers Satz so fein aufzudröseln, wie dies etwa Fritz Reiner konnte. Da helfen – so schöne und farbenreiche Klänge sie auch produzieren – die historischen Instrumente nicht so viel, um von sich aus die Durchsichtigkeit des Klangbilds zu garantieren.

Vokal-orchestrales Auseinanderklaffen

Am wenigsten verständlich ist aber, dass Herreweghe für das Finale, in dem Dirigent eher auf kleine Tempokontraste setzt und damit die Stimmungswelten aneinanderrückt, mit Rosemary Joshua eine Sängerin engagiert hat, die sich mit ihrem durchaus satten Vibrato in die Klanglichkeit des Orchesters kaum einfügen kann. Ihre Diktion wirkt manchmal recht schwerfällig, und so ist ihre Deutung des „Himmlischen Lebens“ von der jugendlich-unschuldigen (und gerade dadurch grotesk-bezwingenden) Interpretation großer Sängerinnen der Vergangenheit doch recht weit entfernt.

Nicht verschwiegen sei jedoch, dass trotz der ziemlich spannungslosen Darstellung größerer Zusammenhänge einige Momente ganz exquisit geraten sind, etwa im langsamen Satz, und auch der Kopfsatz wartet mit manch geschärfter Tönung auf, die man bei Aufnahmen mit modernem Instrumentarium so nicht zu hören bekommt.

Interpretation:
Klangqualität:
Repertoirewert: 
Booklet:





Dieser Beitrag hat Ihnen gefallen? Empfehlen Sie ihn weiter!

Ihre Meinung? Kommentieren Sie diesen Artikel

Jetzt einloggen, um zu kommentieren.
Sind Sie bei klassik.com noch nicht als Nutzer angemeldet, können Sie sich hier registrieren.



Detail-Informationen zum vorliegenden Titel:



Cover vergrößern

    Mahler, Gustav: Sinfonie Nr.4 in G-Dur

Label:
Anzahl Medien:
Veröffentlichung:
Phi
1
01.01.2011
Medium:
EAN:

CD
5400439000018


Cover vergössern

Dirigent(en):Herreweghe, Philippe


Cover vergössern

Phi

Der griechische Buchstabe φ (PHI - die Übereinstimmung mit den Initialen von Philippe Herreweghe ist nicht ganz zufällig) versinnbildlicht die Ambitionen des Labels. Er ist das Symbol für den goldenen Schnitt, für die Perfektion, die man in den Staubfäden der Blumen findet, für griechische Tempel, Pyramiden, Kunstwerke der Renaissance oder für die Fibonacci-Zahlenfolge. Seit der frühesten Antike steht dieser Buchstabe im eigentlichen Sinne für Kontinuität beim Streben nach ästhetischer Perfektion.
Mit der Realisierung dieses Katalogs erfüllt sich Philippe Herreweghe seinen Herzenswunsch, die Ergebnisse seiner musikwissenschaftlichen Forschungen und der im Laufe einer langen Karriere gewonnenen Erfahrungen hörbar werden zu lassen.
Mit vier bis fünf Neuproduktionen pro Jahr wird der Katalog Aufnahmen des wichtigsten symphonischen und chorischen Repertoires umfassen, Polyphonisches und natürlich die Werke von Johann Sebastian Bach, die Philippe Herreweghe in dem Bestreben wieder aufgreifen wird, immer vollendetere Versionen zu schaffen.


Mehr Info...


Cover vergössern
Jetzt kaufen bei...

Titel bei JPC kaufen


Weitere Besprechungen zum Label/Verlag Phi:

  • Zur Kritik... Luzide Pracht: Philippe Herreweghe, sein Collegium Vocale Gent und Anton Bruckner: Eine gereifte, gelassene Deutung zweier Spitzenwerke romantischer Chormusik. Weiter...
    (Dr. Matthias Lange, )
  • Zur Kritik... Edel: Kundig, subtil, gelassen: So gerät diese Deutung einiger Bach-Kantaten durch einen der Pioniere der historisch informierten Praxis. Herreweghe macht keine halben Sachen. Die Diskografie seines exquisiten Labels Phi gleicht einer edlen Perlenkette. Weiter...
    (Dr. Matthias Lange, )
  • Zur Kritik... Reichtum: Es gibt eine große Reihe erstklassiger Einspielungen der Marienvesper. Philippe Herreweghe und seine Ensembles treten gelassen und selbstbewusst in ebendiese erste Reihe. Weiter...
    (Dr. Matthias Lange, )
blättern

Alle Kritiken von Phi...

Weitere CD-Besprechungen von Dr. Tobias Pfleger:

  • Zur Kritik... Tiefe persönliche Betroffenheit: Das Atos Trio nimmt mit einer glühend intensiven Aufnahme zweier tschechischer Klaviertrio-Meisterwerke für sich ein. Weiter...
    (Dr. Tobias Pfleger, )
  • Zur Kritik... Durchdringung: Das Wiener Klaviertrio eröffnete mit gewohnter Klasse eine neue Reihe der Brahms-Klaviertrios. Weiter...
    (Dr. Tobias Pfleger, )
  • Zur Kritik... Geist der Vergangenheit: Masaaki Suzuki nähert sich Strawinskys Neoklassizismus im Geist der Alten Musik. Weiter...
    (Dr. Tobias Pfleger, )
blättern

Alle Kritiken von Dr. Tobias Pfleger...

Weitere Kritiken interessanter Labels:

blättern

Alle CD-Kritiken...

Magazine zum Downloaden

NOTE 1 - Mitteilungen (3/2023) herunterladen (4400 KByte)

Anzeige

Jetzt im klassik.com Radio

Sergej Tanejew: Quartett für Klavier, Violine, Viola und Violoncello E-Dur op.20 - Finale. Allegro molto - Fuga - Moderato serafico

CD kaufen


Empfehlungen der Redaktion

Die Empfehlungen der klassik.com Redaktion...

Diese Einspielungen sollten in keiner Plattensammlung fehlen

weiter...


Portrait

Die Pianistin Jimin-Oh Havenith im Gespräch mit klassik.com.

"Schumann ist so tiefgreifend, dass er den Herzensgrund erreicht."
Die Pianistin Jimin-Oh Havenith im Gespräch mit klassik.com.

weiter...
Alle Interviews...


Sponsored Links

Hinweis:

Mit Namen oder Initialen gekennzeichnete Beiträge geben die Meinung des Verfassers, nicht aber unbedingt die Meinung der Redaktion wieder.

Die Bewertung der klassik.com-Autoren:

Überragend
Sehr gut
Gut
Durchschnittlich
Unterdurchschnittlich